Von Ostafrika in den Zürcher Zoo, dann, ausgestopft, ins Zoologische Museum der Universität Zürich und schliesslich auf die Bühne: Das ist die ungewöhnliche «Karriere» von Arusha, einem Giraffenweibchen. Im Theater gelandet ist Arusha natürlich nicht leibhaftig, sondern verkörpert von einer Schauspielerin. Und vor allem kraft der Fantasie von Brigitta Paulina Javurek und Roger Nydegger, den Köpfen von Kuckuck Produktion, einer freien Theaterproduktionsgemeinschaft. Javurek und Nydegger sahen in dem hohen Tier nicht nur ein buchstäblich, aber auch museumsästhetisch etwas verstaubtes Exponat, sondern die ganze spannende Geschichte hinter seinem langen Weg bis ins Zürcher Museum.
Aus den Gedanken über die Umstände und Hintergründe dieses Wegs entstand das Theaterstück «Giraffenblues: Wie die Giraffe Arusha in die Schweiz kam», das im März dieses Jahres bereits in den GZ Höngg und Witikon zur Aufführung kam. Nun ist eine Wiederaufnahme im GZ Heuried und im Comedy Haus beim Albisriederplatz geplant.
Javurek, Nydegger und ihr Ensemble (Mira Frehner, Andreas Peter und Robert Achille Gwem) erzählen Arushas Geschichte für Kinder ab acht Jahren so: Als Jungtier wird sie von einem Grosswildjäger im heutigen Grenzgebiet von Tansania und Kenia gefangen. Nach ihrer Zähmung verschifft man sie mit vielen anderen Tieren nach Europa. Die Schiffsreise auf dem Dampfer ist gefährlich, die Einreise in die Schweiz im Jahr 1935 nicht einfach. Doch zum grossen Glück begleiten sie der aufgeweckte Junge Mo und sein Rotschulter-Rüsselhündchen Sansibar auf ihrer langen Reise. Während sie sich bald in Zürich eingewöhnt und neue Gspänli findet, reist Mo wieder in seine Heimat zurück. Doch die beiden finden einen Weg, um miteinander im Kontakt zu bleiben.
Einzige Giraffe der Schweiz
Die Begleitinformationen, die Kuckuck Produktion anbietet, verraten den rassismus- und kolonialkritischen Zugriff der Theatermachenden. Was kein Wunder ist, denn die beiden arbeiten seit vielen Jahren mit Theaterschaffenden aus Burkina Faso zusammen; sie wollen dem «schwarz-weissen Denken mit farbigem Theater entgegenwirken», um «das gleichberechtigte Miteinander in einer globalen Weltgemeinschaft» zu fördern.
Arusha wurde gemäss den Begleitinfos in den 1930er-Jahren im Nordosten von Tanganjika vom Grosswildjäger Christoph Schulz gefangen und in die Schweiz überführt. Sie wurde von einem Männchen namens Sudan begleitet, das jedoch 1941 starb. So war Arusha 1941 bis 1946 die einzige Giraffe in der Schweiz und wurde zum grossen Publikumsliebling. 1946 starb sie nach einem Sturz im Zürcher Zoo.
Schulz machte mit dem Fang und Verkauf von Wildtieren an Schweizer Zoos ein gutes Geschäft. Dieses Geschäft florierte seit dem 16. Jahrhundert. Auch «exotische» Menschen wurden auf Jahrmärkten ausgestellt. In den Jahren 1875 bis 1930 veranstaltete die Firma Hagenbeck unzählige Völkerschauen, die auch in Schweizer Zoos zu sehen waren.
Tier und Mensch als Handelsware
Die Schweiz hatte wohl keine Kolonien, doch zahlreiche Akteure waren an kolonialen Geschäften beteiligt, bauten sie auf, unterhielten Netzwerke und transnationale Verbindungen. Missionare, Kaufleute, Söldner – sie alle übten einen grossen Einfluss aus, der bis heute nachwirkt: auf die Einstellung der Schweizerinnen und Schweizer gegenüber dem Fremden, dem Ausländer.
In den Schulbüchern sei dieses Wissen, so die Theaterschaffenden, bis heute nicht angekommen. Dabei habe der Bundesrat bereits 2003 erklärt, Schweizer Bürger seien «mehr oder weniger stark» am Sklavenhandel beteiligt gewesen, was er «aus heutiger Sicht zutiefst» bedauere. Im 19. Jahrhundert war das Gedankengut, dass die Menschen in kolonisierten Gebieten den Europäern unterlegen seien, Teil des allgemeinen Weltverständnisses.
Das Stück ist übrigens in Kooperation mit dem Zoologischen Museum (heute: Naturhistorisches Museum) und dem Theater Purpur entstanden und wurde im Juni/Juli 2022 im Museum uraufgeführt. Zeit, wieder einmal dorthin zu gehen und das ausgestopfte Tier mit neuen Augen zu betrachten.