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Stadt Zürich
15.05.2024
15.05.2024 16:43 Uhr

«Für Chur ist Know-how von Zürich eine Chance»

Simon Gredig hat seine Sporen in Zürich abverdient. Nun nutzt er sein Wissen, um in Chur etwas zu bewegen. Die Aufnahme stammt aus dem  Stampagarten-Quartier, wo Gredig heute mit seiner Familie wohnt.
Simon Gredig hat seine Sporen in Zürich abverdient. Nun nutzt er sein Wissen, um in Chur etwas zu bewegen. Die Aufnahme stammt aus dem Stampagarten-Quartier, wo Gredig heute mit seiner Familie wohnt. Bild: zvg.
Viele tausend Leute studierten in Zürich und kehrten danach wieder in ihre Heimat zurück. Was prägte sie, was nahmen sie mit? Wir haben uns mit dem Bündner Simon Gredig unterhalten. Der ETH-Absolvent arbeitete nach seinem Studium als Geschäftsleiter einer Privatschule in Höngg und kandidiert nun in Chur für den Stadtrat.

Simon Gredig, Sie sind einer der vielen jungen Leute, die aus der ganzen Deutschschweiz nach Zürich kamen, um hier zu studieren. Warum gerade Zürich?

Ganz klar: Wegen der ETH Zürich. Ich habe zwar bald gemerkt, dass Zürich viel mehr zu bieten hat als nur eine gute Hochschule. Aber ausschlaggebend für meinen Entscheid war die ETH.

Und wie wurden Sie so aufgenommen als Bündner in Zürich? Man sagt ja, Zürich sei die grösste Stadt Graubündens ...

Sehr gut. Nach einem kurzen Intermezzo in einer reinen Bündner WG lernte ich in der Folge Freundinnen und Freunde aus der ganzen Schweiz kennen. In meinem Studiengang Umweltnaturwissenschaften waren Studierende von Genf bis Vnà anzutreffen – wir waren also eine sehr gemischte, aber auch sehr eng verbundene Gemeinschaft. In diesem Umfeld habe ich mich in Zürich immer sehr wohlgefühlt.

Was sind die grössten Unterschiede zwischen Zürich und Chur?

Vor einigen Jahren hätte ich vermutlich gesagt: Chur ist Provinz und Zürich ist City. Nachdem ich aber inzwischen wieder seit fast vier Jahren in Chur lebe, muss ich sagen: Auch Chur wird urbaner. Natürlich ist der grösste Unterschied nach wie vor, wie viel mehr in ­Zürich «läuft» – sei es kulturell, auf den Strassen, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Die grosse Chance für eine mittelgrosse Stadt wie Chur ist aber, dass immer wieder Menschen aus Zürich und anderen Schweizer Städten hierherziehen. All diese Menschen bringen ihre ­Erfahrungen und ihre Ideen mit nach Chur. Und so gibt es plötzlich auch in Chur guten Kaffee, coole Festivals und immer mehr Velofahrende.

Nach dem Studium waren Sie eine Zeit lang Geschäftsleiter einer Privatschule am Hönggerberg. Wie haben Sie da
Zürich als Wirtschaftsmetropole erlebt?

Das war eindrücklich: Allein das Schulgeld könnten sich vermutlich in Chur nur die allerwenigsten Familien leisten. Aus diesem Grund wäre das Modell auch nicht eins zu eins hierher zu übertragen. Allerdings gehen von Privatschulen wichtige Impulse aus in Bezug auf die Weiterentwicklung des Schulsystems. So zum Beispiel in Bezug auf altersdurchmischte Klassen, Unterricht in der Natur und selbstorganisiertes Lernen.

Und wie Zürich als 450 000-Einwohner-Stadt mit alteingesessenen Einwohnern/ -innen und vielen Zugezogenen? 

Das macht die Stadt Zürich für mich so spannend. Wenn man in Zürich studiert oder beruflich tätig ist, merkt man plötzlich, dass man bei weitem nicht der einzige Zugezogene ist. Im Gegenteil: Der Grossteil der Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, waren ebenfalls keine «Ur-Zürcherinnen» und «Ur-Zürcher». Von daher ist man oftmals schon fast überrascht, wenn jemand noch lupenreines Züritüütsch spricht. 

Wie ist Ihre (kurze) Einschätzung von Zürichs Politleben?

Wählen in Zürich hat mir immer grosse Freude bereitet: Man kann aus so vielen Listen und Kandidierenden auswählen – für einen interessierten Politbeobachter wie mich eine wahre Freude. Umgekehrt bin ich auch etwas ernüchtert: Trotz klarer Mehrheitsverhältnisse für das progressive Lager schaffen es Stadt- und Gemeinderat nicht, die Stadt sicht- und spürbar den veränderten Bedürfnissen unserer Zeit anzupassen. Mit kleinen Kindern auf dem Velo durch Zürich zu fahren, ist nach wie vor beängstigend. Das sollte doch möglich sein.

««Wenn der politische Wille einmal vorhanden ist, geht es in Chur definitiv schneller als in Zürich.» »
Simon Gredig, ETH-Absolvent und 8 Jahre wohnhaft in und um Zürich

Vor einigen Jahren sind Sie wieder nach Chur gezogen. Rasch wurden Sie für die Grünen ins kantonale Parlament gewählt. Zudem sind Sie Geschäftsleiter von Pro Velo Graubünden. Wie sehr haben Ihnen da die Erfahrungen aus der «Grossstadt» geholfen?

Als Velofahrer wird man in Zürich automatisch politisiert – auch wenn sich die Situation für das Velo in meinen 8 Jahren in Zürich verbessert hat. Entsprechend ist meine Überzeugung, dass wir dringend eine andere Verkehrspolitik benötigen, sicherlich in Zürich gewachsen. Auch mein Studium hat aber viel dazu beigetragen, dass in mir ein Wille zum Mitgestalten entstanden ist. Denn ich bin überzeugt, dass wir unsere Städte nur lebenswerter gestalten können, wenn wir alle daran mitarbeiten – ob in der Politik oder auf anderem Weg. Das Engagement als einer von nur zwei Grünen im Bündner Grossen Rat steht natürlich in krassem Gegensatz zur Politik in der Stadt Zürich – hier müssen wir die Mehrheiten für jedes einzelne Geschäft über alle politischen Lager zusammensuchen. Das ist zwar aufwendiger, aber sicher auch viel spannender als die Arbeit in einem Parlament mit links-grüner Mehrheit.

Findet als Politiker und Pro-Velo-Vertreter eine Austausch mit den Zürcher Kolleginnen und Kollegen statt?

Natürlich! Pro Velo Kanton Zürich ist ­einer unserer wichtigsten Partner, wenn es darum geht, uns interkantonal auszutauschen. Und auch persönlich schätze ich den Austausch mit den Mitstreiterinnen aus meiner alten Heimat sehr.

Sind Neuerungen einfacher in Zürich oder in Chur umzusetzen?

Wenn der politische Wille einmal vorhanden ist, geht es in Chur definitiv schneller. Die Dienstwege sind viel kürzer, die Verwaltung ist unkomplizierter. Nur: Am politischen Willen für Neuerungen hapert es derzeit noch etwas – entsprechend geht es in Zürich derzeit trotzdem schneller.

Nun wollen Sie in Chur Stadtrat werden. Welche Einrichtungen und Vorgaben in Zürich würden Chur guttun?

Zürich hat in der Verwaltung offensichtlich das Bewusstsein geschaffen, dass bei Strassengestaltungen genügend Grünflächen eingeplant werden. Bei uns wird bei Strassenprojekten immer noch zu oft genau gleich gestaltet (oder eben nicht gestaltet), wie es vorher war. Es gibt aber Hoffnung: In Chur haben wir kürzlich in der Volksabstimmung zur Stadklimainitiative ein klares Ja zum Gegenvorschlag erhalten – nun muss sich dieses Bewusstsein auch in Chur noch entwickeln. Und ganz allgemein: Natürlich gibt es in Zürich viel mehr Know-how und viel grössere Dienststellen als in Chur. Aber das ist schlicht der Grösse geschuldet und damit völlig in Ordnung.

Chur hat eine lediglich dreiköpfige, also schlanke Exekutive, Zürich gleich neun Stadträtinnen und Stadträte. Was ist Ihrer Meinung nach besser?

Drei sind definitiv zu wenig. Die Departemente sind riesig, die Verantwortung für sehr viele Themenbereiche konzentriert sich auf eine einzelne Person. Zudem kann eine einzelne starke Person in unserem System sehr viel Macht ausüben. Auch bei Meinungsverschiedenheiten sind grössere Gremien sicherlich krisenresistenter. Die optimale Grösse häng aber sicher auch von der Stadtgrösse ab. In Chur wäre eine Regierung mit fünf Personen gross genug, ob Zürich mit neun Magistraten/-innen allenfalls sogar eine zu grosse Regierung hat, kann ich nicht beurteilen.

Gut 260 in Chur gemeldete Leute arbeiten oder studieren aktuell in Zürich. Wie viele von ihnen werden wohl Sie wählen und warum?

Hoffentlich alle! Es sind aber sicher viel mehr, die genannte Zahl bezieht sich wohl nur auf diejenigen mit Wochenaufenthalt in Zürich. Viele pendeln auch nach Zürich. Ich bin überzeugt, dass ich bei allen punkten kann, die sich ein urbanes Chur mit vielen gemütlich Beizen, öffentlichen Orten und familienfreundlichen Quartieren wünschen – wie es die Exilchurerinnen und Exil­churer in Zürich kennen und schätzen lernen.

Simon Gredig (31) lebte während acht Jahren in und um Zürich. Er studierte an der ETH zuerst ein Semester Maschinenbau und schloss später mit einem Master in Umweltnaturwissenschaften ab. Heute lebt Gredig mit Frau und den zwei Kindern wieder in Chur, wo er schon auswuchs. Er ist der Neffe des Autors.

Lorenz Steinmann/Zürich24