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Kultur
15.06.2024
24.06.2024 20:44 Uhr

Das Kleid der Heimat

Die Landi 1939 hatte ihren eigenen Trachtenhof, der sich beim Zürichhorn befand.
Die Landi 1939 hatte ihren eigenen Trachtenhof, der sich beim Zürichhorn befand. Bild: Archiv Schweizerische Trachtenver­einigung
Von 28. bis 30. Juni findet, zum dritten Mal in Zürich, das Eidgenössische Trachtenfest statt. Dieses mag wie der Einbruch ländlicher Kultur in ein städtisches Umfeld erscheinen. Doch der Anlass erinnert auch daran, dass Zürich von Anfang an ein Hauptschauplatz der Trachtenbewegung war.

Tobias Hoffmann

Zürichhorn, Sommer 1939. Die Landesausstellung ist in vollem Gang, und es zeichnet sich bereits deutlich ab, dass sie zur erfolgreichsten, zuschauerstärksten Veranstaltung werden wird, die die Schweiz jemals gesehen hat. Zu den vielen temporären Bauten der Landi zählt der Trachtenhof, das Haus der schweizerischen Trachtenvereinigung am Zürichhorn auf Höhe der Heimatstrasse. «Die Tracht ist das Kleid der Heimat», steht auf einer Seitenwand geschrieben; zwischen die Wörter sind Blumengirlanden gesetzt, da­rüber paradieren drei geschmückte Kühe im Gleichschritt. Aus heutiger Sicht mag das purer Folklorekitsch sein. Doch dieser hat einen ernsten Hintergrund: Krieg liegt in der Luft, die Schweiz ist von faschistischen Mächten umgeben, die deutsche Propaganda versucht seit Jahren, die Schweizer Öffentlichkeit zu infiltrieren. Mit der sogenannten Geistigen Landesverteidigung hat sich eine bundesrätlich proklamierte Gegenpropaganda eta­bliert, die darauf abzielt, die eidgenössische Identität der Schweizerinnen und Schweizer zu stärken und die Rückbesinnung auf die eigenen kulturellen und politischen Werte zu fördern.

Weg von Dirndl und Verleihkostüm

Die «Landi» 1939 war die mächtigste Manifestation der Geistigen Landesverteidigung, und eine ihrer grössten Veranstaltungen war das Eidgenössische Trachtenfest am Wochenende des 19./20. August. Wie die NZZ auf zwei ganzen Seiten berichtete, waren zwei Umzüge mitten in der Stadt anberaumt, am Samstagnachmittag und am Sonntagvormittag. Bei schönstem Sommerwetter zogen 27 Gruppen an einem Publikum vo­rüber, das gemäss Einschätzung des Berichterstatters möglicherweise die Marke von 200 000 überschritt. Verschiedenste Aspekte bäuerlicher Kultur kamen zur Darstellung, vom Alpaufzug über die Chilbi bis zur Bauernhochzeit. «In allen Landessprachen wurden Lieder angestimmt», schrieb die NZZ, «Jodler und Jauchzer klangen zu einem wahren Festjubel zusammen.» Ländlermusiken und Handorgelgruppen, Trommler und Pfeifer, Jugendorchester und Marschkapellen lösten einander ab, eingeschoben wurden Tanz- und Reigenspiele. Doch bei den beiden Umzügen blieb es nicht: In der Landi-Festhalle wurden drei bombastische Trachtenaufführungen mit Tausenden von Teilnehmerinnen und Teilnehmern gegeben.

Der Grossanlass war jedoch keine Folklore­orgie, sondern ging auf ernsthafte Bemühungen der Trachtenvereinigung zurück: Sie wollte die früheren Fehlentwicklungen mit Dirndlkostümen und «undefinierbaren Schweizer Trachten aus dem Verleihgeschäft» korrigieren. So zumindest stellte es Hans Rudolf Schmid (1902–1992) dar, der Pressechef der Landi, der in verschiedenen Medien ein Grusswort zum Fest publizierte. Es ging also darum, zu den realen Wurzeln der regionalen Trachten und zu einer authentischen Darstellung bäuerlicher Kultur zurückzufinden.

«Das Landvolk hat so gut wie der Städter Anspruch auf die Wohltaten der Technik.»
Hans Rudolf Schmid, Pressechef der Landi 1939

Zweieinviertel und drei Stunden dauerten die beiden Umzüge; sie führten über den Werdmühleplatz, den Standort der Tribünen für Geladene und Ehrengäste: Prominenz aus Politik und Militär, Vertreter von Verbänden und Medien (siehe Bild unten). Am Sonntag sassen dort Bundesrat Giuseppe Motta, Leiter des Aussendepartements, und die Korpskommandanten Henri Guisan und Ulrich Wille. In der Festlaune dieses Tages ahnte wohl niemand, dass knapp zwei Wochen später Guisan zum ersten General der Schweizer Armee ernannt werden sollte. Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 machte die Schweizer Armee mobil, der Landi drohte der Abbruch.

Am offiziellen Bankett im Anschluss an den Umzug empfing Ernst Laur, Obmann der Trachtenvereinigung, die Gäste; laut NZZ bezeichnete er das Fest als eine «glanzvolle Darstellung heimatlicher Kultur und schweizerischer Eigenart» und als eine «brüderliche Handreichung von Stadt und Land». Bundesrat Motta befand, noch nie sei die Liebe zur Schweiz «in solch glanzvoller Weise gezeigt worden». So viel Glanz war nicht nur herbeigeredet, sondern Ausdruck eines ausserordentlichen Moments in der an Höhepunkten reichen Geschichte der Landesausstellung.

Die Aussage von der «brüderlichen Handreichung» führt uns zur Rolle Zürichs in der Heimat- und Trachtenbewegung. Es gehört zu den Paradoxen des Brauchtums, dass die Bestrebungen zu dessen Wahrung oder Neubelebung von Städte(r)n ausgingen. Ein wesentlicher Nährgrund dafür waren die Industrialisierung und das rasante, zum Teil unkontrollierte Wachstum der Städte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vielerorts erwachte die Sehnsucht nach althergebrachten Strukturen und Werten. Sie war aber auch oft mit einem zeittypischen Interesse an historischer Forschung verbunden.

Die Trachtenbewegung war ein Teil dieser Nostalgiewelle. 1896 veranstaltete der Lesezirkel Hottingen, eine legendäre ­Zürcher Bildungsorganisation, das erste schweizerische Trachtenfest. Zwei Jahre später fand zur Eröffnung des Schweizerischen Landesmuseums ein Trachtenumzug statt. 1892 bereits hatte die Zürcherin Julie Heierli, Inhaberin eines Modegeschäfts an der Wühre, den Vorschlag ­gemacht, im Landesmuseum eine Trachtensammlung zu begründen. Sie selbst begann damit, Trachten zu sammeln und sie instand zu stellen. Später dann, zwischen 1922 und 1932, veröffentlichte sie ein fünfbändiges Werk über schweizerische Volkstrachten, das noch heute gültig ist.

Ab der Jahrhundertwende kam auch die Stunde der Heimatorganisationen. 1905 wurde die Schweizerische Vereinigung für Heimatschutz gegründet, die auf die Erhaltung wertvoller Zeugen der Baukultur fokussierte. Mit der Zeit weitete sich der Begriff Heimatschutz und umfasste fast alle Bereiche der Volkskultur. 1909 folgte als erster Seitentrieb der Schweizerische Bund für Naturschutz. 1926 entstand die Schweizerische Trachten- und Volksliedervereinigung. 1930 schliesslich wurde im Auftrag des Bundesrats das Schweizer Heimatwerk gegründet. Es übernahm vom Heimatschutz die Aufgabe, Absatzmärkte für von der Bergbauernbevölkerung in Heimarbeit hergestellte Waren zu erschliessen – darunter auch touristische Souvenirs.

Zürich als Heimat-Schaltstelle

Zuerst als Unterabteilung des Schweizerischen Bauernverbandes in Brugg ansässig, zog das Heimatwerk 1939 ins «Heimethuus» an der damaligen Uraniabrücke (seit 1951 Rudolf-­Brun-Brücke). Das Sekretariat befindet sich noch heute dort. Die Geschäftsstelle des Heimatschutzes, der in den ersten Jahrzehnten dezentral organisiert war, wurde 1934 geschaffen und ebenfalls in Zürich angesiedelt. 1939 wurde auch sie ins Heimethuus verlegt. Seit 2013 ist sie in der Villa Patumbah einquartiert. Die Schweizerische Trachtenvereinigung schliesslich hatte von 1939 an ihren Sitz auch im Heimethuus, ein halbes Jahrhundert lang, mit einer renovationsbedingten Unterbrechung in den 1970er-Jahren. Sozusagen als Klammer dieser drei Organisationen wirkte der bereits erwähnte Ernst Laur (1896–1972), Sohn des legendären Bauernpräsidenten gleichen Namens. Als ­Geschäftsführer und/oder als Präsident spielte Laur in allen drei Organisationen jahrzehntelang eine führende Rolle.

Trachtenfest 1974: Umzug auf der Seebrücke am 29. September. Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG Zürich
«Ein junger Ostschweizer bemängelte unverhohlen das Fehlen ausreichender Festzelte.»
fro., NZZ, 30. 9. 1974

1974, sechs Jahre nach Laurs Tod, stand das Eidgenössische Trachtenfest in Zürich unter einem sowohl wettermässig als auch gesellschaftspolitisch weitaus weniger glücklichen Stern. Eigentlich war es auf 1971 angesetzt gewesen, doch da es sich als sehr schwierig herausstellte, ein Organisationskomitee zu bilden, verzögerte sich die Sache. Und aus Rücksicht auf den Zürcher Veranstaltungskalender wurde der Termin auf das letzte Wochenende im September angesetzt, was sich als unglückliche Wahl erwies. Die beiden Veranstaltungen am Samstag, dem 28. September, ein Volkstanzfest auf dem Münsterhof und ein Nachtumzug, wurden zum Teil kräftig verregnet, die Temperaturen waren spätherbstlich kalt.

Der Umzug am Sonntagnachmittag immerhin kam regenfrei davon, und die NZZ berichtete von einer «in Worten nicht zu fassenden Farbenpracht und variantenreichen Vielfalt der Trachten», die in einer Folge von dreissig Bildern vor dicht gedrängten Reihen präsentiert wurden. Der Umzug erschöpfte sich jedoch nicht, so der NZZ-Journalist, in einer «heute mehr denn je vermissten Idylle», sondern zeigte in drei Zwischenbildern die in der mechanisierten Landwirtschaft eingesetzten «hochrädrigen Fahrzeuge, Maschinen und Geräte».

Wie mag es beim diesjährigen Trachtenfest um die durch das Brauchtum evozierte Idylle bestellt sein, angesichts einer Landwirtschaft in der Krise, angesichts von Hofsterben, Biodiversitätsverlust und drohenden Pestizidverboten, angesichts eines immer wieder beschworenen Stadt-Land-Grabens? Wie auch immer, wenn Zürich als Kulisse für Streetparade und Sechseläuten taugt, mag es auch immer noch für ein Trachtenfest taugen. Die Vielfalt der Lebenswelten ist es ja, die eine Metropole ausmacht.

Tobias Hoffmann/Zürich24