Krieg und Fussball liegen in diesen Tagen nah beieinander: Morgen nimmt die weltweite Politprominenz auf dem Bürgenstock Verhandlungen über eine Lösung des Ukraine-Konflikts auf, gleichzeitig eröffnen Deutschland und Schottland in München die Fussball-EM. Übermorgen tritt die Schweiz gegen Ungarn an, und am Montag spielt die Ukraine gegen Rumänien. Russland jedoch fehlt – auf dem diplomatischen Parkett ebenso wie in den EM-Stadien ...
Guido Tognoni: Einerseits ist es immer ein heikler Seiltanz, wenn Sport und Politik einander in die Quere kommen. Was kann ein russischer Fussballspieler dafür, wenn Putin die Ukraine überfällt? Andererseits ist der Fussball für jede Nation – und das gilt ganz besonders für die osteuropäischen Länder – ein prestigeträchtiges Aushängeschild.
War der Entscheid richtig, Russland vom Turnier auszuschliessen?
Letzten Endes ja. Theoretisch hätte es dann ja zu einer Begegnung zwischen Russland und der Ukraine kommen können; das wäre für das ukrainische Team eine Zumutung, die man vermeiden sollte.
Das schönste Kapitel in Deutschlands Fussballgeschichte liegt siebzig Jahre zurück: Damals wurde die WM in der Schweiz ausgetragen ...
... und im Wankdorf-Stadion ereignete sich «das Wunder von Bern». Deutschland gewann den Final gegen Ungarn und leitete die entscheidende Wende in der Geschichte des Landes ein.
Inwiefern?
1954, keine zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde ein Land Fussball-Weltmeister, das diesen Krieg verursacht und verloren hat – und dieses Land wurde wieder in der Weltgemeinschaft aufgenommen. Das Wunder von Bern ist ein Beispiel für die Brücken, die der Sport bauen kann.
Damit zu unserer Nati: Top-Goalies haben wir, gute Verteidiger auch – und ein Mittelfeld, in dem Xhaka oder Shaqiri mit genialen und kreativen Spielzügen überraschen können. Aber ganz vorne ist keiner, der zuverlässig den Sack zumacht.
Im Sturm haben wir tatsächlich ein Problem. Da müssen wir auch auf das Glück vertrauen.
Philipp Lahm, der vor zehn Jahren in Brasilien als deutscher Mannschaftskapitän Weltmeister wurde und heute als Direktor das EM-Turnier leitet, sagte in einem Interview, die Schweizer seien immer für eine Überraschung gut. Hat er recht?
Ich denke schon. Wir haben uns in den letzten Jahren regelmässig für grosse Turniere qualifiziert, das ist für ein kleines Land keine Selbstverständlichkeit. Aber man muss das auch relativieren: Die Teilnehmerfelder werden immer grösser, immer aufgeblähter – und bei 24 Mannschaften ist die Qualifikation keine Hexerei mehr; zudem hat sich die Nati in einer ausgesprochen leichten Gruppe durchsetzen können.
Jetzt müssen wir in der Vorrunde gegen Ungarn, Schottland und Deutschland antreten. Wie stehen die Chancen, den Achtelfinal zu erreichen?
Einerseits sind wir mit Deutschland die klaren Favoriten in der Gruppe. Wenn wir und die Deutschen die zwei ersten Spiele gewinnen, sind wir mit jeweils sechs Punkten eine Runde weiter; dann ist die letzte Begegnung nur noch ein Freundschaftsspiel – das wäre der Idealfall, aber auch die langweiligste Variante. Andererseits könnte es, sollten die Schweizer am Samstag ihr erstes Spiel gegen Ungarn verlieren, schon sehr schnell brutal eng werden. Immerhin haben wir mittlerweile sehr erfahrene Turnierspieler im Team; die Mannschaft hat eine solide Beständigkeit erreicht. Das lässt hoffen.
Und das, obwohl Trainer Murat Yakin in letzter Zeit im Schussfeld der Kritik stand – sogar bei den eigenen Spielern.
Es ist gut, wenn man Probleme offen ansprechen kann. Yakin pflegt ein freundlich-kumpelhaftes Verhältnis zur Mannschaft. Schon als Spieler hat er sich von seinen Instinkten leiten lassen – und das tut er auch als Nati-Coach. Sein Handicap sind Stars wie Xhaka oder Akanji, die im eigenen Club unter Weltklasse-Trainern arbeiten, Xabi Alonso von Bayer Leverkusen etwa oder Pep Guardiola von Manchester City. Im Vergleich zu einem Murat Yakin aus Schaffhausen kann da schon
ein Imagegefälle entstehen. Aber Murat ist mit seinen 49 Jahren noch jung genug, um wichtige Erfahrungen zu sammeln. Jetzt steht er vor seiner ultimativen Chance: Wenn Murat die Nati in den Viertel-, den Halb- oder gar in den Final führt, setzt er sich ein Denkmal und ist selbst einer der ganz Grossen.
Wie werden Sie die nächsten vier Wochen verbringen?
Hauptsächlich vor dem Fernseher, da kann ich möglichst viele Spiele sehen. Ich bin ein grosser Fan des Fernsehsports und schätze sehr, was die TV-Leute technisch draufhaben. Man kann zurückspulen und jede kritische Situation, jedes Offside noch einmal anschauen. Vor dem Fernseher hat man sehr viel mehr vom Spiel als im Stadion. Aber klar: Die Atmosphäre, die fehlt natürlich.
Sie wollen einen ganzen Monat nonstop vor dem Bildschirm sitzen?
Könnte man so sagen ...
Andere suchen das Gemeinschaftserlebnis beim Public Viewing – oder laden Freunde ein und veranstalten eine Fussballparty.
Da müssen aber auch die richtigen Leute zusammenkommen, sonst «schnorren» einem doch alle drein! Ich geniesse ein Spiel am liebsten alleine mit einem guten Essen; da kann ich kritische Szenen wiederholen und schalten und walten, wie es mir passt.
Und wenn die Schweiz weiterkommt, gar den Halbfinal erreicht – bleiben Sie dann immer noch einsam zu Hause hocken?
Man soll nie nie sagen. Vielleicht wäre das ein Grund, die Stimmung im Public Viewing, etwa in der «Sunne-Metzg» in Küsnacht, zu geniessen.
Haben Sie, wenn Sie an die kommenden Tage und Wochen denken, einen Traum?
(Denkt nach.) Es wäre ideal, wenn die Schweiz gleich zweimal gewinnen könnte.
Wie das?
Morgen vermitteln unsere Diplomaten auf dem Bürgenstock einen Waffenstillstand im Ukraine-Krieg, und in vier Wochen werden die Nati-Spieler im Berliner Olympiastadion Europameister, weil ein Küsnachter Goalie den entscheidenden Penalty hält!
Ein schöner Traum! Wollen Sie auch noch eine realistische Prognose wagen?
Am 14. Juli holen die Niederlande den Titel. Das würde ich den sympathischen «Oranjes» von Herzen gönnen; sie waren bei grossen Turnieren oft nah am Titel und haben es doch erst einmal geschafft, an der EM 1988. Das ist (zu) lange her.