Home Region Sport Magazin Schweiz/Ausland
Zürich Nord
30.06.2024
28.06.2024 15:54 Uhr

Spielzeugfreier Kindergarten? Zwei Klassen wagten das Experiment

Mit Tüchern und Möbeln kann man bestens spielen – die Phantasie zaubert spannende Welten herbei.
Mit Tüchern und Möbeln kann man bestens spielen – die Phantasie zaubert spannende Welten herbei. Bild: zvg.
Zwei Kindergartenklassen probten das Projekt «spielzeugfreier Kindergarten». Während neun Wochen gewährten die Lehrpersonen mit dem Projekt spannende Einblicke in einen aussergewöhnlichen Kindergartenalltag. Fazit: Es funktioniert, macht Spass und ist didaktisch wertvoll. Denn wie man als Kindergärtler und Kindergärtlerin spielt, kann tatsächlich das Suchtverhalten beeinflussen.

Marianna Viscuso

Weihnachtsferien, Sportferien, Geschenkberge und Einkaufsrummel. Kinder zwischen 4 und 6 Jahren haben meist viele Spielsachen, die blinken, sich bewegen und ja, die Fantasie nicht immer beflügeln. Kürzlich erwartete die Kindergärtlerinnen und -gärtler nun ein regelrechtes Kontrastprogramm im Kindergarten. Ein Alltag «spielzeugfrei». Anstelle der Puppenecken, Bauecken und Murmelbahnen zogen Tücher, Wäscheklammern und freistehende Möbel ein.

Vorinfos an die Eltern

Dabei wurden die Kinder schon vor den Ferien mit dem Projekt vertraut gemacht und aktiv in die Vorbereitung – dem Wegräumen der Spielsachen – einbezogen. Auch wurden die Eltern umfassend über die Ziele und den geplanten Projektablauf informiert.

Ohne Anleitung der Lehrpersonen galt es für die 4- bis-6- Jährigen nun Tag für Tag frei zu spielen und den neuen Kindergartenalltag selbst zu gestalten. Für die Kinder bedeutete dies, die gewohnten Strukturen hinter sich zu lassen und in einem selbstbestimmten Spielmodus neue Abläufe, Räume, Routinen und Aktivitäten zu entwickeln. Lediglich die Verhaltensregeln im Klassenverbund wurden klar definiert und kommuniziert.

  • Burgen, Gassen, Türme. Spielen ohne Spielsachen geht auch. Bild: zvg.
    1 / 3
  • Was ist das denn? Nicht einfach mit einem knatternden Spielzeug herumrennen, kann Anfangsschwierigkeiten bedeuten, kann aber laut Experten Suchtverhalten mindern. Bild: zvg.
    2 / 3
  • Was hier eher trist aussieht, bedeutet in der Praxis oft viel Leben und Spass. Bild: zvg.
    3 / 3

Die Idee hinter dem «spielzeugfreien Kindergarten»

Doch der Reihe nach. Woher kommt die Idee eigentlich? Seit seiner Einführung in Deutschland im Jahr 1992 hat das Projekt «Spielzeugfreier Kindergarten» nicht nur die Art und Weise, wie Kinder zum freien Spiel zurückfinden, untersucht, sondern auch die Grundlagen für die Entwicklung eines gesunden Konsumverhaltens behandelt. Die Idee der – ja, tatsächlich – Suchtprävention im Kindergarten entstand in Zusammenarbeit mit der Aktion Jugendschutz der Landesarbeitsstelle Bayern und dem Städtischen Kindergarten Penzberg.

Suchtprävention im Kindergarten?

Seit 2015 wird das Projekt von den Suchtpräventionsstellen des Kantons Zürich angeboten und seit 2021 auch in der Stadt Zürich umgesetz. Christa Gomez, eine der treibenden Kräfte des Projektes an Stadtzürcher Schulen misst dem frühen Kindesalter dabei eine besonders wichtige Rolle bei. «Prävention kann nur dann erfolgreich sein, wenn Kinder zum aktiven, selbst gesteuerten Spiel zurückfinden», erklärt sie. «Im ersten Zyklus, also im Kindergarten und den ersten Schuljahren, tritt Suchtverhalten noch selten auf. Doch bereits hier können wichtige persönliche und soziale Kompetenzen gestärkt werden, die später einen verantwortungsvollen Umgang mit Suchtmitteln unterstützen», ist Gomez überzeugt.

Das wichtigste Ziel der Zeit ohne Spielsachen sei vor allem «Kindern Raum für neue Erfahrungen zu schaffen und so die Lebenskompetenzen nach WHO zu stärken.» Dazu zählen «Konfliktlösefähigkeit, kreatives Denken, Beziehungsfähigkeit und Selbstwahrnehmung», so Gomez weiter und hebt dabei die Bedeutung kindseigener Ressourcen hervor. «Wenn Kinder sich bereits früh verschiedene Lebenskompetenzen aneignen und in diesen gestärkt werden, befähigt sie das, ihr eigenes Leben zu steuern und mit Veränderungen der Umwelt umzugehen».

Schulen begrüssen das Projekt

Seit der Einführung des spielzeugfreien Kindergartens in Zürich verzeichnet die Stadt einen spürbaren Anstieg des Interesses seitens der Lehrpersonen. Das Projekt, welches darauf abzielt, die Kreativität und Eigeninitiative der Kinder zu fördern, habe sich als äusserst erfolgreich erwiesen, so die beteiligten Lehrpersonen.

An der Schule im Schulkreis Glatttal waren es zwei Kindergartenlehrpersonen, die die Durchführung des Projektes in Angriff nehmen wollten: «Sie kamen auf mich zu und haben mich über ihre Idee das Projekt durchzuführen informiert. Ich war begeistert davon und habe meine Zustimmung für die Durchführung gegeben», erklärt die Schulleiterin Martina Kresken. «Das erste Mal wurde das Projekt im Schuljahr 2021/22 an unserer Schule durchgeführt. Weil die Begeisterung der Lehrpersonen für das Projekt gross war, haben sie sich für eine zweite Durchführung nach zwei Jahren entschieden».

Spielzeugfrei ins Spiel zurückfinden

Was ist das Hauptziel? Die Kinder lernen, selbstständig und ohne vorgefertigte Spielsachen zu spielen, was für viele Lehrkräfte ein wichtiger Aspekt der kindlichen Entwicklung ist. Obwohl es zunächst seltsam erscheinen mag, dass Kinder das «Spielen lernen müssen», beobachten Lehrpersonen immer häufiger Schwierigkeiten bei den Kindern sich ohne konkrete Anleitung in einem intensiven und ausdauernden Spiel zu beschäftigen.

Eine intensive Zeit der Beobachtung und Veränderung

Da das Projekt auf eine Veränderung sowohl in der Gruppe wie aber auch in jedem einzelnen Kind hinarbeitet, wird das Projekt in den besagten Kindergärten lediglich alle zwei Jahre durchgeführt. Denn den Lehrpersonen steht jeweils eine Zeit der intensiven Beobachtung und Veränderung bevor, in der nicht nur das Potenzial jedes einzelnen Kindes, sondern auch die Gruppe im Vordergrund steht.

«Über die Durchführung des Projekts entscheidet nicht das Potenzial der Klasse, da in unseren Augen jede Gruppe von diesem Projekt profitieren, und jedes Kind sich auf eine individuelle Reise begeben kann», sind sich die Lehrpersonen einig. Darüber, in welche Richtung sich das Projekt entwickelt, lasse sich keine eindeutige Aussage treffen. Dies sei «von verschiedenen Faktoren abhängig», finden sie. Und weiter: «Die Kinder kommen unweigerlich in Kontakt, müssen miteinander verhandeln, Kompromisse und Lösungen finden. Sie lernen für sich einzustehen und erleben was es heisst, auch einmal mit Langeweile umgehen zu können.»

Langeweile aushalten, eine eigene Stimme finden und Gefühle wahrnehmen

Jedes Kind geht anders mit dieser neuen Situation um. Die Kinder brauchen unterschiedlich viel  Zeit sich in diesem Projekt zu orientieren. Durch die unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder lernen während dem Projekt nicht alle Kinder das gleiche: «Einige Kinder können Konflikte rasch alleine bewältigen, andere finden ihre Stimme und lernen ihre Bedürfnisse zu vertreten und ihre Ideen in das gemeinsame Spiel einzubringen. Wieder andere lernen sich selbst und ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, darauf zu hören und ihren eigenen Körper zu respektieren und ihm Sorge zu tragen». Veränderungen würden mit Interesse beobachtet und in die richtigen Bahnen gelenkt, erklären die Lehrpersonen. Sie seien für die Kinder da und begleiten sie auch in schwierigen Situationen, so dass ein Lernzuwachs bei allen Kindern stattfinden könne.

Gleiche Ausgangslage für alle – oder doch nicht?

Es gibt Kinder, die von Zuhause her die Situation kennen, eigene Idee kreieren zu dürfen und wo die Eltern Möglichkeiten schaffen, in denen die Kinder ohne viel Spielzeug aktiv sind. Dazu gehören unter anderem auch Besuche im Wald, bei welchen die Kinder ohne viel Material die Natur erkunden dürfen. Diese Kinder haben im Projekt sicherlich einen Vorsprung.

Trotzdem ist das Erleben des Kindergartens für alle Kinder eine ganz neue Erfahrung, in welcher sie sich erst einmal orientieren und zurechtfinden müssen. «Die Spielsachen sind auf ein Minimum begrenzt und werden erst lebendig und bekommen einen Sinn, wenn man etwas damit kreiert», sagen die Lehrpersonen. «Nur durch das gemeinsame Lernen, durch das vertiefte Auseinandersetzen mit den Materialien und dem gemeinsamen Finden von Ideen wird es zu dem tollen und bereichernden Erlebnis, das in Erinnerung bleibt», fassen die Lehrpersonen den Prozess zusammen. 

Weniger ist mehr: Kinder entfalten Kreativität ohne Spielsachen

Der «spielzeugfreie Kindergarten» zeigt laut Experten eindrucksvoll, dass Kinder auch ohne viele Spielsachen glücklich und kreativ sein können. Auch wenn die Kinder das Malen wohl vermisst haben, werde ihnen das Bauen von Häusern, Zirkuszelten und Raketen in Erinnerung bleiben.

Kinder können das

Die Beobachtungen zeigen, dass Kinder sich durchaus intensiv und lange mit einfachen Dingen beschäftigen können. Gerade die längere Auseinandersetzung mit einem reduzierten Angebot an Gegenständen bringt die Fantasie der Kinder hervor und jedes Kind nimmt etwas Individuelles aus dieser Zeit mit. Diese Erkenntnis regt zum Nachdenken über unsere konsumorientierte Gesellschaft an. Ein gesundes Mittelmass zwischen dem vollständigen Fehlen von Spielzeug und dem Überfluss an Spielsachen zu finden, ist eine Herausforderung. «Zur Förderung der kindlichen Kreativität lohnt es sich jedoch allemal, sich dieser Herausforderung zu stellen», sind die Beteiligten überzeugt.

Marianna Viscuso/Zürich 24