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Kultur
17.08.2024
19.08.2024 21:25 Uhr

Zürich als Hochburg wissenschaftlicher Grafik

Den Zürcher Karl Bodmer (1809–1893) zog es unwiderstehlich in die Fremde. Er war einer der Ersten, die authentische Einblicke in die Kulturen der nordamerikanischen Indigenen vermittelten.
Den Zürcher Karl Bodmer (1809–1893) zog es unwiderstehlich in die Fremde. Er war einer der Ersten, die authentische Einblicke in die Kulturen der nordamerikanischen Indigenen vermittelten. Bild: Wikimedia Commons
«Für die angewandte Kunst ist Zürich bis heute ein gesundes Biotop» – so kündigt NZZ Libro eine neue Publikation über die lange Geschichte ­wissenschaftlicher Grafik in Zürich an. Schon nach ein paar wenigen Blicken in das Buch möchte man dem Verlag vollumfänglich recht geben.

Tobias Hoffmann

Der Erste ist Conrad Gessner (1516–1565), einer der bedeutendsten Wissenschaftler, die die Schweiz jemals hervorgebracht und den das Nationalmuseum in Zürich 2016 mit einer grossen Ausstellung geehrt hat – der Erste eines Tableaus mit 15 «handelnden Personen», die in der Publikation «Zwischen Wissenschaft und Kunst» die Hauptrolle spielen. Die einen sind vor allem ­Wissenschaftler mit mehr oder weniger zeichnerischer Begabung, die anderen sind gestandene Illustratoren, die als professionelle Maler, Zeichner, Kupferstecher, Radierer und Lithografen ihren Lebensunterhalt zu bestreiten versuchten. Allen ist gemeinsam, dass sie eng mit Zürich verbunden waren, durch ihre Herkunft zumindest und meistens, weil Zürich ihre Wirkungsstätte war.

Die Autoren des Buchs, François G. Baer und Yves Baer, beide in Höngg wohnhaft, überblicken eine Zeitspanne von über 500 Jahren, von den Anfängen des Buchdrucks, der die ganze ausdifferenzierte grafische Handwerkskunst überhaupt erst entstehen liess, bis in die Gegenwart in Person der einzigen Frau in der Reihe, der wissenschaftlichen Illustratorin Sonja Burger (geboren 1962). Dass Zürich über all die Jahrhunderte sowohl eine Brutstätte wie auch eine Futterquelle für viele grosse oder gar herausragende Persönlichkeiten im Schnittpunkt von Wissenschaft und Grafik gewesen ist, das ist es, was die beiden Baers mit ihrer Publikation zeigen wollen – unter anderem. Wobei sie nicht unterschlagen, dass es harte Zeiten für Wissenschaft und Kunst gab, zumal im 17. Jahrhundert, als Politiker und Klerus «dem Zürcher Stadtstaat das enge Korsett der lustfeindlichen, ‹zwinglianischen› Orthodoxie über­streiften».

Aufschwung durch Aufklärung

Aber auch in jener Zeit brachte Zürich einen – heute fast völlig vergessenen – Künstler wie Conrad Meyer (1618–1689) hervor, der nach Wanderjahren in Lyon, Frankfurt am Main, Augsburg und München ab 1642 eine reiche Tätigkeit in seiner Geburtsstadt entfaltete, die aber wissenschaftlich noch kaum erforscht ist. Dabei zählte er zum Beispiel zu den Pionieren der alpinen Landschaftsmalerei. Schlag auf Schlag folgen sich die Persönlichkeiten im 18. Jahrhundert, als mit der Aufklärung das Interesse an wissenschaftlichen Themen stark wuchs. Voraus schreitet Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733), ein Grosser der Botanik und Wegbereiter der Paläontologie (siehe «Jede Zelle Wissbegier», Nr. 28/29, 13. Juli 2023, Seite 5). Ihm folgen zum Teil kaum bekannte Könner wie David Herrliberger, Johann Caspar Ulinger, Johann Heinrich Wüest und Johann Heinrich Lips.

Hier ist aber nicht der Ort, um auf alle 15 Protagonisten einzugehen. Beschränken wir uns auf jene, die mit einem Bild vertreten sind. Der Mann, der die unten abgebildete Vedute der Stadt Zürich geschaffen hat, ist Johann Balthasar Bullinger (1713–1793). Nach einer Lehre als Maler absolvierte er seine Wanderjahre und bildete sich unter anderem beim grossen Giovanni Battista Tiepolo in Venedig sowie in Amsterdam weiter. 1741 zwang ihn eine schwere Erkrankung zur Rückkehr nach Zürich. Bald konnte er von seinen Aufträgen leben und gründete eine Familie. Ein grosser Teil seines Schaffens ist aber gemäss den Autoren nicht mehr zugänglich, seine Tapeten- und Porträtmalereien befinden sich überwiegend in Privathäusern und -sammlungen. Seine grafischen Arbeiten aber, Kupferstiche von Schweizer Landschaften, darunter zwölf Zürcher Ansichten, und seine Veduten der Stadt Zürich gelten wegen der Genauigkeit der Details «als herausragende Werke», wie es im Buch heisst.

Johann Balthasar Bullinger zeigt uns das Zürich von 1770, das heute kaum wiederzuerkennen ist: Gefängnisturm Wellenberg (rechts), Grendeltor (Mitte), Schifflände (links). Bild: Zentralbibliothek Zürich

Genauer Blick auf die «Indianer»

Das Titelbild oben stammt von einem Zürcher, den es unwiderstehlich in die Ferne zog und der seiner Heimatstadt kaum verbunden blieb: Karl Bodmer (1809–1893), im Oberdorf geboren, begleitete bereits als junger Mann die berühmte Expedition Prinz Maximilians zu Wied-Neuwied in das Innere Nordamerikas. Seine gezeichneten und aquarellierten Landschaftsbilder und Darstellungen des Alltags der ­Native Americans («Indianer») sowie der Flora und Fauna stellen bedeutende ethnologische Zeugnisse dar. Ab 1835 lebte er mehrheitlich in Paris und machte sich einen Namen als Wald- und Tiermaler sowie als Zeitschriften- und Buchillustrator, was aber im Buch der Baers ausgespart bleibt.

Die Orchideenstudie unten schliesslich entsprang dem kunstvoll geführten Stift der bereits erwähnten Sonja Burger. Die Seebacherin wurde 1982 in die Fachklasse für Wis­senschaftliches Zeichnen an der Zürcher Schule für Gestaltung aufgenommen. Ihre Abschlussarbeit mit der Darstellung von Kleinsäugern in einem Riet im Fürstentum Liechtenstein legte den Grundstein für ihre Karriere als teils freiberufliche und teils angestellte Illustratorin. Ausgehend von einem Teilzeitjob am Universitäts­spital Zürich spezialisierte sie sich auf die Darstellung medizinischer Aspekte. Später kam auch die Architektur als Schwerpunkt dazu.

Die Frage, wie sich die freihändige Zeichenkunst im Zuge der immer weiter perfektionierten Computerprogramme entwickeln wird, werfen die Baers mit der Schilderung von Sonja Burgers Techniken wohl auf, eine Antwort können sie jedoch natürlich nicht geben. Ihr Buch aber gibt einen Einblick in die grandiosen Werke, die dem Drang des Menschen, die Natur in all ihren Facetten zu erfassen, zu verdanken sind. So manche davon: made in Zurich.

Eine Orchideenstudie von Sonja Burger. Aquarell, 1992 (Ausschnitt). Bild: Sonja Burger

Buchhinweis

François G. Baer, Yves Baer: «Zwischen Wissenschaft und Kunst. Bilder aus über 500 Jahren»

NZZ Libro, 2024. 192 Seiten, 300 Abbildungen. Circa 64 Franken.

Tobias Hoffmann/Zürich24