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Stadt Zürich
02.11.2024
12.11.2024 22:38 Uhr

Ist Zürichs Architektur zu blass?

Die Siedlung «Am Katzenbach I» im Abendlicht. Im Hintergrund ein Gebäude der vierten Etappe.
Die Siedlung «Am Katzenbach I» im Abendlicht. Im Hintergrund ein Gebäude der vierten Etappe. Bild: Tobias Hoffmann
Die Farbe scheint Zürich schon lange aus dem Gesicht gewichen. Man wünscht der Stadt manchmal ein bisschen Rouge auf der Haut. Doch ist die beige-grau-weisse Monotonie im Stadtbild wirklich so vorherrschend? Eine kleine Erkundung.

Tobias Hoffmann

Labitzke, was war das noch mal? Vor zehn Jahren räumte die Polizei das Areal der ehemaligen Farbenfabrik Labitzke in Alt­stetten. Viele Jahre lang war es teilweise ordentlich vermietet, teilweise besetzt gewesen. 2015 begannen der Abbruch der Altbauten und die Altlastensanierung, von 2016 bis 2018 baute das renommierte Architekturbüro Gigon Guyer auf dem Areal ein verschachteltes Konglomerat von acht Wohngebäuden mit ganz unterschiedlichen Höhen. Auf der Website präsentiert es sich in schönstem Architekturjargon so: «Die tektonische Struktur und die farbliche Differenzierung in der Höhe über alle Fassaden vereinen die Baukörper zu einer Grossform. Die Vergangenheit des Areals als Farbenfabrik widerspiegelt sich im Farbkonzept: Im Inneren ist jedem Haus ein Farbton zugeordnet.»

Wer jedoch heute die Innenhöfe des Areals durchquert und die Fassaden auf «farbliche Differenzierung» prüft, nimmt zwar die spannende Verschachtelung der Baukörper wahr, reibt sich andererseits aber die Augen und fragt sich: Bin ich farbenblind? Was sich tatsächlich vermittelt, ist die «Grossform»: ein ziemlich homo­gener, schwer zu beschreibender Farbton irgendwo zwischen hellbeige, sandfarben und eier­schalenweiss. Gediegene, schmerzfreie Eleganz. Kein Farbtupfer, nirgends. Nur bei sonnigem Wetter kann man Farbnuancen zwischen den Stockwerken erkennen. Dabei müsste man doch annehmen, dass bei grossformatigen Arealüberbauungen die Vermeidung von Monotonie oberste Priorität haben müsste.

Einförmiges Schillern

Dem ist aber nicht so. Schauen wir uns zwei andere Beispiele an. Schwenker nach Unterstrass: Die 2016 fertiggestellte Wohnüberbauung «Guggach» von Baumberger Stegmeier Architektur und EMI Architekten (BS+EMI Architektenpartner AG) besteht aus vier mächtigen, unregelmässig geformten Baukörpern, die einen grossen Hof einfassen. Die Fassaden bestehen aus Gussglas und schillern in einem metallischen Grün. Ein sehr charakteristisches Gewand, ungewöhnlich und darum eigentlich schätzenswert – aber in der Gesamtheit schlägt hier die Monotonie voll durch. Zu massiges Schillern stumpft ab.

Und noch ein Blick in den Norden: Westlich der Tramendhaltestelle Seebach befindet sich ein Hotspot der neueren Genossenschaftsarchitektur. Vor rund zwanzig Jahren begann die Baugenossenschaft Glattal damit, in einem gewaltigen Erneuerungsakt und in Etappen nicht mehr zeitgemässe Wohnbauten aus den 1950er-Jahren zu ersetzen.

Die fünf Siedlungen wirken jede für sich homogen und auf den ersten Blick monochrom. Sie unterscheiden sich jedoch untereinander ästhetisch teilweise fundamental, was – gottlob! – zu viel Abwechslung führt.

Was sind «hohe Anforderungen»?

Das zeigt ein Spaziergang die Katzenbachstrasse entlang, der an allen fünf Siedlungen vorbeiführt. Von der Schaffhauserstrasse her kommend sieht man links zuerst die Bauten der ersten Etappe (2007), die in einem etwas diffusen Beige gehalten sind. Rechts stehen ihnen die fünfgeschossigen Bauten der Etappe IV (2015) mit Fassaden aus dunkelrot glänzenden Keramikplatten gegenüber. Weiter vorne folgen linkerhand die cremeweissen Kuben der Etappe II (2010) und ihnen gegenüber die ebenfalls in Keramikplatten gehüllten Gebäude der fünften Etappe (2019). Am Schluss wird auf der linken Seite eines der Häuser der dritten Etappe (2013) sichtbar; diese sind mit einer hellgrauen Wellblechfassade verkleidet.

Nehmen wir noch zwei aktuelle Beispiele von Überbauungen mit der Stadt als Bauträgerin: Die zwei monumentalen Siedlungen «Depot Hard» an der Hardturm- und «Letzi» an der Hohlstrasse (schräg gegenüber der Labitzke-Überbauung) weisen grossflächig zurückhaltende Sand- bzw. Grautöne auf. Was hält die Stadt von dieser «Monotonie»? Gian-Marco Jenatsch, Leiter Architektur im Amt für Städtebau, differenziert zwischen Monotonie und Monochromie, wobei er Letztere im Fall der genannten Beispiele nachvollziehen kann. Er betont jedoch, dass für diese Projekte die gesetzliche Anforderung an eine besonders gute Gestaltung gelte. Für die Qualitätskontrolle sorgte in diesen Fällen ein Konkurrenzverfahren. Im nachfolgenden Bewilligungsverfahren bildeten Farbe und Material wiederum ein Beurteilungskriterium.

Aber es scheint so, als führe die Forderung nach «besonders guter Gestaltung» in erster Linie zu farblicher Zurückhaltung.

Siedlung «Labitzke» in Altstetten: Die Farbnuancen erkennt man nur bei genauem Hinschauen und bei guten Lichtverhältnissen. Bild: Tobias Hoffmann

Echte und falsche Traditionen

Aber stimmt der Eindruck der Monotonie überhaupt? Mit subjektiven Eindrücken wollen wir uns hier nicht begnügen. Fragen wir jemanden, der sich in der Sache bestens auskennt: Stefanie Wettstein ist Leiterin des Hauses der Farbe, wo Farbgestalter ausgebildet werden. Als Treffpunkt hat sie ein Haus am südlichen Ende des Schaffhauserplatzes vorgeschlagen, das eine Fassade in kräftigem, erdigem Rot besitzt. Den Vorwurf der farblichen Ödnis hält sie nicht für gerechtfertigt. «Die Stadt Zürich ist meines Erachtens genügend bunt», meint sie. Farbe könne allerdings etwas differenzierter eingesetzt werden. Es brauche nicht immer eine «plakative» Fassadenfarbe. Möglich sei auch eine farbliche Gestaltung einzelner Elemente wie zum Beispiel der Fenstereinfassungen.

Wettstein weist darauf hin, dass Zürich bis ins 19. Jahrhundert eine von Sandstein und Kalkverputz dominierte farblose Stadt war. Im Zuge der Industrialisierung konnte man grossflächig Fassadenfarben einsetzen. Ein Höhepunkt wurde in den Zwanzigerjahren mit dem Konzept der farbigen Stadt erreicht. Auf jene Zeit geht die Gestaltung beispielsweise des Erismannhofs im Kreis 4 und der Altstadthäuser in der Augustinergasse zurück. «Diese hat man», erläutert Wettstein, «in einer vermeintlichen Tradition bunt gemacht.» Später habe man sich auf die reale Tradition des sandsteinigen, beigen Zürich zurückbesonnen.

Differenziert statt dick aufgetragen

Wettstein findet es gut, wenn es ausgewählte farbige Bauten gibt. Für die nichtfarbigen Gebäude fordert sie eine sorgfältige Gestaltung, die in ihren Augen auch bei der Siedlung «Am Katzenbach» gegeben ist. Und in der Tat: Nicht alle Fassaden haben die gleiche Farbe, sie variiert je nach Funktion des Innenhofs. Von bunt kann jedoch nicht die Rede sein.

Ist man einmal für das Thema sensibilisiert, entdeckt man allerdings viele farbige Tupfer, auch jenseits der Häuser in den Blockrandbebauungen der Kreise 3, 4 und 5, die eine breite Farbpalette aufweisen. Schauen Sie sich doch einmal das Haus Gämsenstrasse 11 im Kreis 6 an, das kürzlich aufgestockt wurde. Der alte Teil ist weiss, der aufgestockte lila. Eine fast schon freche Idee, um die Geschichte des Hauses sichtbar zu machen.

Eine letzte Frage an Frau Wettstein: Welches Haus sie denn punkto Farbe am aufregendsten finde? «Das Haus zum Schwert auf der Gemüsebrücke», antwortet sie. «Aufregend ist es wohl nicht, aber es hat eine wunderbar differenzierte Farbgestaltung.» Das Rouge der Stadt ist offenbar einfach nicht dick aufgetragen. Vielleicht ist das auch besser so.

  • Die roten Keramikplatten der Siedlung «Am Katzenbach IV» aus der Nähe betrachtet. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Freches Lila für das aufgestockte Geschoss: Gebäude an der Gämsenstrasse im Kreis 6. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Ist das die typisch zürcherische Sandsteinfarbe? SAW-Siedlung bei der Tramendhaltestelle Seebach. Bild: Tobias Hoffmann
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Tobias Hoffmann