Interview mit Werner Vogt
Im Vorfeld der Buchvernissage (siehe Infobox unten) gab Werner Vogt in einem Gespräch in seinem Büro in Zumikon dieser Zeitung Einblick in das Buch und in einige besonders bemerkenswerte Aspekte von Churchills Dinner-Diplomatie.
Herr Vogt, in Ihrem Buch «Churchill und die Schweiz» gibt es ein Kapitel zu den Schweizer Köchinnen der Churchills. Ist das neue Buch daraus hervorgewachsen?
Werner Vogt: In gewisser Weise schon. Zentral war aber, dass ich mich fragte, wie der 65‑jährige Churchill es schaffte, in einer ausweglosen Situation Vollgas zu geben. Das Geheimnis seiner Arbeitskraft war, dass er den Tagesablauf völlig nach seinen Bedürfnissen gestaltete. Privat- und Arbeitsleben gingen ineinander über. Ganz wichtig dabei war: gut essen, gut trinken, gut rauchen. Und ohne Witz: Ein kriegsentscheidendes Element war der Mittagsschlaf. Man könnte sich wohl antrainieren, zum Abendessen und danach so viel zu trinken, wie er das tat, aber wer könnte irgendwo zwischen 10 Uhr abends und 3 Uhr morgens noch solche Reden schreiben, wie er sie ab 1940 regelmässig hielt?
Sie gelten als bester Churchill-Kenner der Schweiz. Die Churchill-Forschung in England und den USA muss gigantisch sein ...
Es gibt wohl wenige Individuen, die so gut erforscht sind wie Churchill. Er warf fast nichts weg. Auch die Weinrechnung zu den Tranksamen, die er an Bord brachte, als er 1899 zum Burenkrieg fuhr, ist noch greifbar. Seine finanziellen Verhältnisse sind ebenfalls sehr gut dokumentiert. Er orientierte sich immer an seinen Bedürfnissen, nicht am verfügbaren Geld, und ging mehrmals fast pleite.
In Ihrem Buch erwähnen Sie, dass Churchill pro Tag ungefähr zwei Flaschen «Pol Roger»-Champagner getrunken habe. Das ging sicher ganz schön ins Geld.
Heute wären das 100 Franken pro Tag. Dazu kommen die bis zu zehn grossen «Romeo y Julieta»-Zigarren, das wäre ungefähr zehnmal 30 Franken. Und so weiter und so fort. Ausserdem lud er oft eine Runde von zehn bis zwölf Leuten ein, die nicht nur Wasser tranken.
Aber einfach nur ein Gourmet oder gar ein Gourmand war Churchill nicht?
Essen war für ihn zwar ein Genuss, auf jeden Fall, aber er brauchte es auch als Führungsinstrument, zur Informationsbeschaffung, um Leute zu unterhalten – was er sehr gerne machte – und als Mittel höchster Diplomatie. Kürzlich wurde in einer Publikation beschrieben, wie er sich mehrmals im Weissen Haus häuslich niederliess. Einmal blieb er fast drei Wochen. Frau Roosevelt fand das mässig lustig, denn ihr Gatte und er becherten und rauchten bis abends spät. Das praktizierte er auch bei Stalin. Die Kommunisten hasste er ja, aber nach dem Motto «Der Feind meines Feindes ist mein Freund» versuchte er, auch mit ihm für gutes Wetter zu sorgen. Wenn es nicht weiterging, assen die beiden Kaviar und tranken Wodka bis in die frühen Morgenstunden.
Hatten Sie für das neue Buch Zugang zu neuen Quellen?
Georgina Landemare, langjährige Chefköchin der Churchills, veröffentlichte 1958 ihre Rezepte. Diesem Fundus entnahm das Imperial War Museum 2015 eine Auswahl und gab sie unter dem Titel «Churchill’s Cookbook» heraus. Diese Rezepte haben nicht den Differenzierungsgrad heutiger Kochbücher. Landemare schrieb nur sporadisch auf, welche Gewürze man verwenden solle. Lilly Wyss, eine der Schweizer Köchinnen, führte jedoch ein Kochtagebuch und auch ein gewöhnliches Tagebuch. Dort kann man übrigens sehen, dass es öfter Knatsch gab. Weder Churchill noch seine Frau waren einfache Persönlichkeiten. Sie führte den ganzen häuslichen Apparat wie ein Feldweibel.
Die Rezepte sind sehr deftig, heute würde man einfach sagen: ungesund. Wird die irgendjemand wirklich nachkochen?
Churchill war sicher der Horror seines Hausarztes. Ich denke, dass der Champagner euphorisierend wirkte – und das Zigarrerauchen auch. Dennoch ist schon erstaunlich, dass er 90 Jahre alt wurde. Allerdings muss man sagen, dass die letzten ungefähr zehn und vor allem die letzten fünf Jahre dann nicht mehr lustig waren: mit Herzinfarkten, Hirnschlägen, Lungenentzündungen. Sein Lebenselixier war aber sicher auch die Kiste mit den geheimen Dokumenten. Die spornte ihn zu Höchstleistungen an.
Haben Sie eines der Rezepte nachgekocht?
Ja, einzelne habe ich ausprobiert. Verschiedene Gemüsegerichte zum Beispiel. Übrigens hielten sich die Churchills solidarisch an die Rationierungsvorgaben. Die Rationierung ging bis fast zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg weiter. Es dauerte sehr lange, bis die englische Agrarwirtschaft bzw. der Handel den Bedarf wieder decken konnte. Offenbar konnte Churchill auch nicht einfach Rindfleisch essen, wie es ihm passte, das sieht man im Kochtagebuch von Lilly Wyss. Es gab Poulet bis zum Abwinken.
Haben Sie Pläne, noch ein weiteres Churchill-Buch zu publizieren?
Ich weiss wohl einiges über Churchill, aber man kann immer wieder Neues lernen. Kürzlich leitete ich eine Reise zum Thema «Churchill, The Battle of Britain und D‑Day». Wir waren selbstverständlich in seinem Landhaus, heute ein Museum. In seinem Arbeitszimmer befindet sich ein Perserteppich. Der Mitarbeiter, der durch das Haus führte, wies auf die Klebbänder am Teppichrand hin. Churchill sei ein paarmal beinahe über die Fransen gestolpert und habe sie deshalb eigenhändig abgeschnitten. Und dabei handelte es sich um einen historischen Täbris-Teppich aus dem 18. Jahrhundert, ein Geschenk des Schahs ...