Andreas Cabalzar
Eveline Bärtschi ist eine Frau, die viel von ihrem Leben erwartet, einem Leben, das oft weniger als erwartet bietet. Doch darf Eveline als eine zufriedene Frau gelten.
Luan Erjon ist ein Mann, der wenig von seinem Leben erwartet, einem Leben, das oft mehr bietet, als er erwartet. Luan würde sich zufrieden mit seinem bescheidenen Leben bezeichnen, dass dann doch manchmal etwas grösser wird als erwartet.
Die beiden sind sich bisher noch nie begegnet. Es ist der 24. Dezember vormittags um 11 Uhr.
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Orhan, der Vorarbeiter der Schlachtstrasse 1 im Schlachthof Zürich, ruft: «Hast du die Sau für Bärtschi schon eingeladen?» Luan schreit, den Lärm übertönend, zurück: «Sie liegt im Wagen, den abgestempelten Lieferschein brauche ich noch, könntest du ihn für mich bereitmachen?» Auf der Schlachtstrasse 1 werden Schweine geschlachtet. Jetzt reinigen alle Arbeiter ihren Arbeitsplatz. Sie wandern jeden Tag eine Station weiter, sodass jeder den ganzen Schlachtprozess bearbeiten kann. Die Arbeitsteilung macht die Arbeit erträglicher. Luan mag seine Arbeit, er hat sein besonderes Augenmerk auf die Zusatzaufgaben gerichtet. Orhan fragt immer zuerst ihn, ob er den Grill- und besonders die Spanferkelaufträge übernehmen wolle. Heute soll es ein Weihnachtsschwein in einer Waldhütte ob Erlenbach geben.
Luan hat zugesagt, er wäre sowieso in seiner 1-Zimmer-Wohnung am Letzigraben allein gewesen, wie die letzten vier Jahre. Weihnachten ist nicht sein Fest; er feiert mit seinen albanischen Freunden Bajram, zwar ohne Familie, seine Eltern sind beide gestorben. Er ist als Einzelkind in Durrës am Mittelmeer aufgewachsen, wo er mit seinem Vater in den ersten Jahren nach der Schule, auf der alten Fat (was auf Albanisch «Glück» heisst), einem in die Jahre gekommenen Holzfischerboot, zur See fuhr. Noch heute vermisst er manchmal den Geruch des Meeres, hier in der schmucken, grauen Stadt. Wonach riecht es in Zürich? Auch die farbigen Häuser und Strassen Tiranas tauchen immer wieder aus dem Meer der Erinnerungen auf. Dort hat Luan, nach Vaters frühem Tod, in der Metzgerei seines Onkels mütterlicherseits am Skanderbeg-Platz gelernt und gearbeitet. Doch zog es ihn vor zehn Jahren weiter, er wollte weg, wusste nicht genau wohin und fand über einen Schulkameraden die Stelle im Schlachthof Zürich. Seine Mutter folgte ihm in die Schweiz. Aber sie wurde nie heimisch hier, ihr fehlte das Salz auf ihrer Haut, die Weite des Meeres, der Klang ihrer Sprache, die Gerüche Durrës. Sie verstummte ganz in ihrer Krankheit, die ihr Lebenslicht innert eines Jahres zum Erlöschen brachte.
Luan hat sich gut eingerichtet in seinem Leben. Sein Landsmann Shakiri beim FC Basel zieht ihn samstags in die Stadien. An Weihnachten ist spielfrei, da finden Familienspiele ohne Luan statt, auch deshalb hat er Orhans Weihnachtsschweinanfrage ohne zögern angenommen. Der Grill, die Holzkohle, Marinade, Gewürze, die grosse Spritze, Gemüse und Äpfel, die lange Nadel und der Bratfaden alles bereits im Wagen verstaut. Auch die Winterkleider sind eingepackt; es soll kalt werden diese Nacht. Jetzt noch die letzten Bolzen reinigen. Es war ein harter letzter Tag vor der Weihnachtspause. Luan hatte Dienst in der Schussanlage, wo er mit Luftdruck den Bolzen in die Schweineschädel bohrte. Auch diese Arbeit musste getan werden für ein gutes Stück Fleisch. Jetzt noch die erfrischende Dusche und dann los, Richtung Erlenbach.
Zur gleichen Zeit, nur einen Fussmarsch entfernt, räumt Eveline ihre gut assortierte, exquisite Modeboutique auf. Vor einer Stunde war die letzte Kundin im Laden, sie schliesst heute um 12 Uhr. Leo, ihr Löwchen, ein kleiner bauschiger, verspielter, lebhafter Hund, streicht ihr um die Beine und bettelt um ein «Leckerchen» und Aufmerksamkeit. Leo ist ihr steter und einziger ernsthafter Begleiter. Ja, sie erwartet viel von ihren Amouren, die aber oft weniger als erwartet bieten – ihr Thema eben. Deshalb ist Leo Löwchen wirklich ihr einziger ernsthafter Begleiter.
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Swissness ist Eveline in die Wiege gelegt, als Tochter eines Landwirts im bernischen Schwarzenegg. Ihr Vater ist Grossrat der Berner SVP, was auch auf ihre politische Perspektive abgefärbt hat. Sie ist Mitglied in der väterlichen Partei und teilt mit ihm konservative Werthaltungen und politische Positionen. Swissness ist ihr nicht nur politisch und im Beruf wichtig, sondern auch bei ihren Amouren. Da ist sie konsequent. In Erlenbach ist sie die Mitorganisatorin des Flohmarktes, der von der lokalen SVP organisiert wird. In ihrem Geschäft und auf ihrer florierenden Website www.swissbelladonna. ch vertreibt sie erfolgreich Schweizer Mode und Design. Sie ist Trendsetterin für einheimisches Modeschaffen und war schon in allen einschlägigen Zeitschriften präsent. Bei Swissbelladonna erfüllen sich viele ihrer hohen Erwartungen. Das Weihnachtsgeschäft ist dieses Jahr gut gelaufen. Ihr Angebot findet Anklang, wobei ihre übersetzten Erwartungen die realen guten Zahlen übersteigen. Ihr Thema eben, aber für heute ist Schluss.
Anklang findet nicht nur ihre Mode, sondern auch die von ihr organisierte Familienweihnacht, die jedes Jahr in einer der Waldhütten am Pfannenstiel stattfindet. Denn ihre Schwester und ihr Bruder sind mit ihren Familien – ihr nach – aus dem Berner Oberland nach Zürich und an den Zürichsee gefolgt. Heuer hat sie die Waldhütte am Dachsberg ob Erlenbach gemietet und bei der Grossmetzgerei Furcht AG ein Spanferkel bestellt. Alles ist gerichtet, ein Metzger brät das Tier am Weihnachtsabend für die Familie am Feuer. Das wird heuer eine ganz besondere Feier mit Weihnachtssau, Eveline hat grosse Erwartungen an den Abend und hofft auf keine Enttäuschungen.
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Schon von weitem sieht Eveline den grossgewachsenen, kräftigen Mann in der Schneelandschaft am Werk. Er hat den Grill in der Lichtung vor der Waldhütte bereits aufgebaut und ein Feuer entfacht. Der Metzger wirkt ruhig und sicher in seinen Bewegungen und schaut nur kurz auf, als ihr Wagen heranfährt. «Hallo, ich bin Eveline Bärtschi. Das ist ja schon eine mächtige Glut», begrüsst sie Luan. Er schaut auf, zieht die Handschuhe aus und reicht Eveline die Hand. Selbstbewusst blickt er in ihre Augen und registriert: eine adrette, gepflegte Dame, etwas älter als er, in einen schwarzen Daunenmantel gehüllt, mit dicken Schneestiefeln und einem verspielten kleinen Hund, der wie ein Miniaturlöwe aussieht. Sie spürt seinen kräftigen Händedruck, Luan lächelt freundlich: «Ich bin seit einer Stunde hier. Auf der Bestellung steht, dass Sie um 19 Uhr essen möchten. Stimmt das noch?» «Meine Familie sollte um 18 Uhr hier sein, 19 Uhr wäre perfekt.»
Luan bittet um eine Festbank, um die Sau vorbereiten zu können. Leo ist aufgedreht und springt in die Leine, als Luan die Sau auf den Tisch legt und die Utensilien zur Sauzubereitung auf dem Tisch ausbreitet. Eveline bleibt nahe beim Haus mit dem nervös tänzelnden Leo stehen und schaut Luan bei seiner Arbeit zu. Dieser bricht einen kleinen Tannenzweig ab, hält ihn über die Glut, bis die Nadeln zu brennen beginnen. Reicht Eveline den glühenden, rauchenden Zweig. «Damit Sie das Blut und die Sau nicht riechen ...schöne Weihnacht und danke für den Auftrag an diesem schönen Ort.» Überrascht nimmt Eveline den Zweig und riecht den Tannengeruch, der sie nach Schwarzenegg ins Bauernhaus versetzt. Vater hat jeweils die Stube ausgeräuchert. Zuerst mit den angebrannten Tannenzweigen, dann hat er eine Mandarine geschält, die Schale zusammengedrückt und deren Saft ins Kerzenlicht gespritzt.
Eva schaut auf Luan. Es waren immer solche Zaubereien, die sie bei den Aussenseitern kennenlernte, und Luan ist sicher ein solcher Aussenseiter, dass er am Weihnachtsabend Schweine für Fremde zubereitet. Und abgesehen davon, er gefällt ihr. Sie schaut ihm fasziniert zu, wie er die Sau vorbereitet. Mit einem Messer sticht er ins Muskelfleisch, mit der übergrossen Spritze spritzt er die Marinade in die Schnitte, so bearbeitet er die ganze Sau. Dann spannt er das Ferkel auf den Spiess, füllt den Bauch mit Gemüse und den aufgeschnittenen Äpfeln, würzt den Bauchinhalt mit dem Rest der Marinade, näht mit chirurgischem Geschick den Bauch zu, wickelt die Sau in Folie, hebt den Spiess samt Ferkel auf den Grill, wo die Glut von den Tropfen der Marinade zischt. Nun gilt es, den Spiess jede Viertelstunde um eine Vierteldrehung zu bewegen. Einer ist schon ganz ausser sich ob der Geruchsorgie in seiner Nase. Leo springt wild in die Leine und will Eveline zu Luan und der Sau zerren.
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Luan hilft Eveline bei den Vorbereitungen in der idyllischen Waldhütte. Sie erzählt von Schwarzenegg, dem Thunersee und von Swissbelladonna, er von Durrë, dem Meer und dem Schlachthof. Leo hat sich derweil auf seine Decke in eine Ecke der Hütte schlafen gelegt. Jede Viertelstunde unterbricht Luan, um den Spiess einen Viertel weiter zu drehen und den nächsten Sack Holzkohle aufs Feuer zu schütten. Die Luft ist kalt und klar. Er hat seit Jahren nicht mehr so viel und so vertraut mit einer Frau gesprochen, obschon sie aus einer ganz anderen Welt zu sein scheint – Mode, Schickeria und Politik. Nicht seine Welt, aber das spielt ja keine Rolle, er hat die Sau zu braten und dann wieder an den Letzigraben zu fahren.
Eveline denkt: «Es liegt ein Zauber über der weihnächtlichen Saubraterei am Dachsberg. Der schneebedeckte, magische Wald. Knirschender Schnee unter den Füssen, die vom Holzfeuer gewärmte, holzgetäfelte, gemütliche Waldhütte, der überraschend freundliche, hilfsbereite, bescheidene Mann. Ja, Luan strahlt eine angenehme menschliche Wärme aus. Sie fühlt sich innerlich ruhig und wohl, wie schon lange nicht mehr. Hier ist kein Bling-Bling, keine zu lauten Worte, wenig Schein, dafür viel Sein mit diesem selbstbewussten Fremden.
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Die ersten Gäste tauchen aus dem Dunkel des Waldes auf, kommen zum Feuer, fragen nach Eveline, die in der Hütte die Vorbereitungen abgeschlossen hat. Sie schenkt allen ein Getränk ein; die Familie, es sind zwanzig Personen, versammelt sich um das Feuer. Eugen Bärtschi ist schon beim zweiten Bier und fragt etwas zu laut in breitem Berndeutsch, ob Luan keine Familie habe, dass er das Schwein für sie brate? Und ob sie das dort unten zu Weihnachten immer machen würden, das mit der Sau? Luan schüttelt den Kopf. Ob er denn kein Christ sei? Nein, Muslim. Eugen trottet murrend zurück in die Hütte. «Jetzt ouno a Wiehnaachte einä vo dännä bi üüs ...» Die anderen Gäste sind freundlich und danken, dass Luan die Sau zubereitet. Das hätten sie noch nie gehabt. Um 19 Uhr schneidet Luan die ersten Portionen, das Fest nimmt seinen Lauf, die Familie singt Weihnachtslieder, geniesst das Essen, es wird viel gelacht und die Sau schwindet. Luan geniesst die Ruhe des Waldes. Er bleibt draussen beim Feuer und trinkt langsam sein Bier.
Vor Mitternacht, die letzten Gäste brechen auf, kommt Eveline zu Luan, das erste Mal, seit die Gäste da sind, sprechen sie miteinander. «Hast Du Leo gesehen?» «Nein».
«Ich finde ihn nicht! Leo? Leeeooo? Leeeeeeoooooooooo! Der kann doch nicht einfach verschwunden sein.» Eveline verabschiedet aufgelöst ihre letzten Gäste. Von Leo keine Spur und es ist kein Ton zu hören. Luan sucht nach Spuren, Eveline ruft verzweifelt nach dem Ausreisser. Mit den Handys suchen beide die Umgebung ab. Nach zwei Stunden wird die Suche abgebrochen. Durchnässt und erschöpft sitzen beide bei einem warmen Tee in der Waldhütte und schweigen sich an.
Eveline lässt die Türe zur Hütte auf, während sie fertig aufräumt. Die Zauberei ist zerplatzt, sie ist wütend auf sich, dass sie Leo nicht angebunden hat, auf die anderen, von denen einer den Hund rausgelassen hat, auf Luan, dass er nichts bemerkt hat.
Als Luan fertig auf- und eingeräumt hat, kommt er in die Hütte, verabschiedet sich ruhig und drückt nochmal sein Bedauern aus über Leos Verschwinden. Eveline nimmt wortlos und mit versteinerter Miene Luans hingestreckte Hand zum Abschied. Er fährt zurück an den Letzigraben. Den Wagen will er morgen ausräumen.
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Am nächsten Morgen, bei strahlendem Sonnenschein, steht Luan um 10 Uhr vor der Waldhütte. Die roten Fensterbalken sind zugezogen, der Wald und die Dachsberghütte präsentieren sich als verwunschener Märchenort. Er musste nochmals herkommen und noch einmal nach Leo suchen. Er ruft und lockt: «Leooo, Leeeooo.» Ausser dem Knirschen seiner Schuhe im Schnee und seinem Atem ist der Wald still. Doch da: «Leo? Leo?» hört er aus der Ferne eine Frauenstimme rufen. «Leo?» ruft er laut in den Wald und geht auf die Frauenstimme zu. «Leo? Leo?» Eveline hört die dunkle Männerstimme nach ihrem Löwen rufen. Wer ist das? Durch das Dickicht hindurch entdeckt sie Luan. «Du da?» « Ich wollte ihn suchen, konnte nicht in der Stadt bleiben und ich wollte Dich mit Leo überraschen.» Eveline spürt Tränen der Ohnmacht und der Rührung aufsteigen. Sie fällt Luan weinend in die Arme.
Nach einer Weile gehen sie schweigend nebeneinanderher. Als sie auf die Dachsberghütte zugehen, sehen sie einen grossen Mann in Arbeitskleidern, der einen gelben Zettel an die Tür heftet. Sie gehen zu ihm, fragen nach und lesen: «Kleiner Löwe zugelaufen, ein Foto von Leo und die Telefonnummer und Adresse des Berghofs.» «Mein Leo!» schreit Eveline. «Ihr Hund?» fragt der Bauer? «Ja, ihr Hund», antwortet Luan an Evelines Stelle, denn sie lacht und weint nun aus Glück und Erleichterung. Eveline fällt Luan unvermittelt um den Hals, küsst ihn – für ihn komplett unverhofft. Ja, das Leben bietet eindeutig mehr als er erwartet hat. Sie holen gemeinsam Leo beim Bauern ab und fahren danach nach Erlenbach zu Eveline. Heute bietet ihr ihr Leben eindeutig mehr, als sie je erwartet hätte. Weihnachten eben ...