New York ist die Stadt, die niemals schläft. Und ich war mittendrin. Umgeben von Blitzlichtern, heulenden Sirenen und riesigen Menschenmengen stolperte ich durch Chaos, Lärm und Abenteuer, hatte den besten Sex meines Lebens und verliebte mich in den Mann mit den honigbraunen Augen und dem Rooftop-Apartment an der Washington Street.
Jetzt, lächerliche vier Tage später, liege ich alleine und an eine Infusion angebunden im Zürcher Triemli-Spital – und es ist verdammt langweilig. Und still. Und erschreckend einsam.
Was kann ich zu meiner Verteidigung sagen? Meine Lust, Erfahrungen zu sammeln, wuchs über die Jahre hinweg zu einer herrischen Leidenschaft heran, und der Schmerz, den sie verursacht, ist nur klein gegenüber der bebenden Begierde, ihr nachzugehen. In New York war ich frei, unbesiegbar und stets der Geschichte verpflichtet. Von Flankenschmerzen liess ich mir nicht den Spass verderben. «Bringt’s nüt, schadet’s nüt» war auch das Motto, mit dem ich – zurück in Zürich – widerwillig in eine Arztpraxis stolperte.
Zwei Stunden später lag ich auf der Notfallstation des Triemli-Spitals. Vor mir blitzten Nadeln auf. Drei Ärztinnen und Ärzte tasteten mich gleichzeitig ab. Ihre Worte prallten wie Faustschläge auf mich ein: Nierenbeckenentzündung. Harninfekt. Blutvergiftung?
Ich nahm das alles kaum wahr. In Gedanken schwamm ich noch immer durch den Rooftop-Pool und küsste den Hals meines Geliebten. Körper an Körper schimmerte die nackte Haut. Ich lächelte verträumt, während das nasse Ultraschallgerät über meinen nackten Bauch rollte. Erst als mir der Arzt sagte, ich müsse morgen operiert werden, wachte ich plötzlich auf – und schüttelte energisch den Kopf. Zu sehr fürchtete ich mich vor der Vollnarkose. Dem Kontrollverlust. Musste ich mich jetzt zwischen meiner psychischen und physischen Gesundheit entscheiden? Wie also «richtig» handeln? Ich war gefangen in einer Triage gegen mich selbst.
Erbärmlich und schwach
Um 4.00 Uhr wurde ich in ein reguläres Spitalzimmer gebracht. Ich fühlte mich erbärmlich, schwach, und vor allen Dingen abhängig. Ich war über Nacht ein Niemand geworden. Blinzelte benommen aus dem Fenster und sah die Skyline von New York aufblitzen. Die Hochhäuser, die Freiheitsstatue, und wir, mittendrin, umgeben von den schönsten und reichsten Menschen der Stadt. Vielleicht der ganzen Welt.
Jetzt teilte ich mir das Zimmer mit einer Fremden: der 92‑jährigen Rosmarie. Ein dunkelblauer Vorhang trennte uns voneinander. Ich bekam die Frau nie zu Gesicht, doch hörte sie nachts schnarchen und furzen. Das beruhigte mich irgendwie.
Um 8.00 Uhr erfuhr ich, dass ich nicht operiert werden musste, da es mir schon besser ging und die Medikamente ihre Wirkung zeigten. Zur Sicherheit musste ich drei weitere Tage im Spital bleiben.
Ohne Ablenkung und ohne Besuch war meine einzige Unterhaltung die 92‑jährige Rosmarie. Sie telefonierte oft mit ihrem Ehemann. Er war 90 Jahre alt, die beiden wohnten gemeinsam in einem Haus am See und kümmerten sich dort umeinander. Bis dass der Tod sie scheidet, quasi. «Und wie geht’s dem Ehemann?», wollte die Pflegefachfrau wissen. «Im Kopf ist er noch ganz gut.» Der Ehemann kam einmal zu Besuch. Rosmarie freute sich und küsste ihn zur Begrüssung. Ich sah den Kuss nicht, ich hörte bloss das Schmatzen hinter dem Vorhang. Die beiden redeten lange miteinander, ohne viel zu sagen. Er erzählte, was er gefrühstückt hatte. «Spiegeleier, die sind einfach zu machen.» Sie erzählte, was sie gefrühstückt hatte. «Brot mit Butter und Konfi. Wie immer.» Alles wie immer.
Am nächsten Abend wurde Rosmarie nervös. Sie wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Ihre Operation stand bevor. Die Ärztin sagte, man müsse realistisch sein, ihr Herz sei schwach. Ich verschluckte mich beinahe an meinem Lindenblütentee. War heute womöglich Rosmaries letzter Tag? Und sie verbrachte ihn hier, mit mir, einer 22‑jährigen Fremden?
Ich fragte mich plötzlich, wer wirklich bei uns ist, wenn wir sterben. Rosmarie jedenfalls rief ihren Ehemann an. Er ging gleich ran. Ein Abschied? «Wir hatten es ja immer schön zusammen, gell?» «Ja, doch ...» «Ich liebe dich Schatz, gell?» «Ja, ich auch, ich auch ...»
Eine Träne kullerte über mein Gesicht. Der Mensch lebt in Versuchung, sich selbst als Zentrum des Universums zu verstehen. Aber was war mein Leben, verglichen mit jedem anderen? Mit Rosmaries? Ich beneidete sie ja beinahe! Sie hatte jemanden, der da draussen auf sie wartete. Der sie liebte. Und den sie liebte.
Jene Geborgenheit konnte ich mir nur erträumen. In einsamen Nächten schlich sich die Frage an: Was zählt wirklich im Leben? Ich realisierte, dass ich mich zu sehr auf die Dinge fokussiere, die mir fehlen. Ich bin nicht vermählt, nicht berühmt, habe noch nie ein Buch veröffentlicht. Aber was wird dann aus all den Dingen, die bereits da sind? Und die ich von ganzem Herzen liebe?
Am nächsten Morgen wurde ich aus dem Spital entlassen. Rosmarie war nicht aus dem Operationssaal zurückgekehrt. Ich streifte mir das Spitalhemd ab. Zog meine Schuhe an. Es war Zeit, zu gehen, und das war, wie so oft, Zeit, noch ein bisschen zu bleiben. Vor drei Tagen wäre ich am Entlassungstag schnellstmöglich aus dem Spital gerannt. Jetzt blieb ich freiwillig hier, bloss um auf die Rückkehr von Rosmarie zu warten.
Auch Liebe, oder?
Ich packte meinen letzten Kram zusammen, da schwang plötzlich die Zimmertüre auf – und Rosemarie wurde hereingebracht. Sie lag auf ihrem Spitalbett, und sie war wach, sie lebte, und blinzelte mich an! Ich spürte Erleichterung im ganzen Körper, lächelte, und jubelte ihr zu. Sie erkannte mich nicht. Doch ich erkannte sie. Erkannte mich. Habe es vielleicht schon immer getan. Eine halbe Sekunde blieb ich noch stehen, dann ging ich. Verschloss mich. Die Zimmertür blieb halb offen.