Kaum eine Diagnose polarisiert so stark wie ADHS. Während die einen sie als längst überfällige Erklärung für lebenslange Schwierigkeiten feiern, wittern andere eine Modediagnose. In der Stadt Zürich scheint die Nachfrage nach ADHS-Therapien jedenfalls rasant zu steigen.
Laut aktuellen Daten des Versorgungsatlas des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums gehört Zürich zu den Kantonen mit den höchsten Verschreibungszahlen: 6,8 Tagesdosen pro 1000 Erwachsene, ein Vielfaches mehr als im Tessin, wo die Rate gerade mal bei 1,3 liegt. Der nationale Schnitt beträgt 5,8.
Keine Angst
In urbanen Zentren wie Zürich ist die Offenheit gegenüber psychischer Gesundheit grösser, der Leidensdruck höher. All das könne Symptome verschärfen, die dann zur Abklärung führten.
Was früher vor allem Kindern zugeschrieben wurde wird heute auch bei Erwachsenen erkannt. Denn bei bis zu 70 Prozent der Betroffenen bleiben die Symptome bis ins Erwachsenenalter bestehen. Die Folge sind mehr Diagnosen, mehr Behandlungen und mehr Medikamente.
Stadtleben als Risikofaktor
Gerade in einer Stadt wie Zürich, wo hohe Anforderungen im Job auf dichte Wohnverhältnisse und Alltagsstress treffen, schlagen ADHS-Symptome besonders stark zu Buche. Wer es sich leisten kann, sucht sich Hilfe. Denn lange Wartezeiten bei Fachpersonen sind eher die Regel als die Ausnahme.
Zürcher Fachpersonen sehen darin keine Überversorgung. Die Diagnose wird gemäss gängiger Standards gestellt, Medikamente nur bei entsprechendem Leidensdruck verschrieben. Dass Zürich dabei im Spitzenfeld liegt, wird eher als Ausdruck einer funktionierenden Versorgung gewertet.
ADHS bleibt umstritten
Nicht jede Diagnose führt automatisch zu einer Medikamentenabgabe. Verhaltenstherapie oder Coaching können ebenso helfen, insbesondere bei milderen Verläufen. Entscheidend ist, ob Betroffene im Alltag eingeschränkt sind.
Die kantonale Streuung der Verschreibungen kann man auch als Warnsignal wahrnehmen. Die Forschung weiss noch zu wenig, ob die Unterschiede in der Versorgung gerechtfertigt sind. Aktuell läuft ein Forschungsprojekt, das genau diesen Fragen auf den Grund gehen will.
Zürich schaut genauer hin
Mit dem steigenden öffentlichen Interesse an psychischer Gesundheit wächst auch der Druck auf das Gesundheitssystem, regionale Unterschiede zu erklären und wenn nötig zu korrigieren.