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Stadt Zürich
19.03.2023
21.03.2023 13:57 Uhr

Der Wettlauf um die Kreislaufwirtschaft

Die Intensität des Lichteinfalls in die rundum verglasten Geschosse kann durch das neuartige, hier bereits montierte Sonnenschutzglas des Typs «Eyrise s350» dynamisch gesteuert werden.
Die Intensität des Lichteinfalls in die rundum verglasten Geschosse kann durch das neuartige, hier bereits montierte Sonnenschutzglas des Typs «Eyrise s350» dynamisch gesteuert werden. Bild: Tobias Hoffmann
«Pionierprojekt» heisst es noch allenthalben, wenn es um «zirkuläres» Bauen geht. Das geplante Recyclingzentrum der Stadt in Altstetten zum Beispiel wird als solches bezeichnet. Im privaten Sektor nimmt ein grosses Umbauprojekt an der Müllerstrasse im Kreis 4 dieses Label für sich in Anspruch.

Tobias Hoffmann

Irgendwann im Verlauf der dreiviertelstündigen Baustellenbegehung wird Mladen Tomic sagen: «Wir hätten für den Abbruch des Gebäudes ziemlich viel Geld ausgeben müssen.» Tomic ist Medien­sprecher von Swiss Prime Site (SPS), der grössten börsenkotierten Immobiliengesellschaft der Schweiz, die auch das grosse Bürogebäude an der Müllerstrasse 16/20 im Kreis 4 in ihrem rund 13 Milliarden Franken schweren Portfolio hat. Er führt mich, zusammen mit Katharina Schwiete, Leiterin des Asset-Management Bau der SPS, und einem Bauleiter durch den siebengeschossigen Komplex an bester Innenstadtlage nahe beim Stauffacher. An diesem 22. Februar wird bereits intensiv an der Fassade gearbeitet. Drei Wochen zuvor sah man hier fast nur das Skelett des Gebäudes mit Baujahr 1980, das zuletzt von der Swisscom genützt wurde.

Statt das Gebäude auf die Tragstruktur zurückzubauen, wäre es in einem anderen Fall vielleicht vollständig abgerissen worden, doch SPS entschied sich dafür, es nach dem Prinzip des «zirkulären» Bauens, also im Sinne der Kreislaufwirtschaft, zu erneuern – wobei «erneuern» nicht ganz das richtige Wort ist. In diesem Gebäude kehrt viel Altes in neuer Form wieder.

Die Führung durch das Gebäude, die im Technikgeschoss zuoberst beginnt und in einem der drei Untergeschosse endet, gibt Aufschluss über den Pioniercharakter des Projekts, die angewendeten Verfahren und die finanziellen Chancen und Risiken der Kreislaufwirtschaft. Da die Informationen sich spontan aus dem lockeren Austausch ergeben, werden sie in der Folge nicht dem Ablauf der Besichtigung folgend geschildert, sondern nach Themen geordnet.

Aus Fenstern werden Lampen

Nehmen wir als erstes Thema das Recycling: Vom gesamten Betonvolumen des Gebäudes wurden nur 7 Prozent abgebrochen, und diese werden vollständig wiederverwertet, einerseits fein vermahlen in Wärmedämmplatten, andererseits in den Platten für einen Terrazzoboden. Der überwiegende Teil des Aluminiums der früheren Fassade wird gereinigt, zugeschnitten und wieder für die Fassade, aber auch für die Verkleidung der zweiten Eingangslobby verwendet. Aus dem Abbruchglas und den alten Fenstern schliesslich, und das ist ein besonders ungewöhnlicher Prozess, entstehen Lampen in den Bereichen vor den Liften, die zum Grundausbau gehören. Diese Idee, erzählt Katharina Schwiete, sei im Austausch zwischen dem Architekturbüro (Ilmer Thies Architekten AG) und dem Totalunternehmer (Allco AG) entstanden.

Zweites Thema: die Dokumentation der Baumaterialien. Dafür gibt es in der Schweiz seit ein paar Jahren ein Zauberwort: Madaster, aus dem Zusammenzug der Worte Material und Kataster entstanden. Dabei handelt es ich um eine Cloud-­Plattform, «wo erfasst ist, wo welches Material mit welchem Zirkularitätspotenzial verbaut wurde», wie Schwiete erklärt. Mladen Tomic führt weiter aus: «In zehn Jahren wird auf Madaster schon viel erfasst sein, sodass man bei späteren Neu- oder Umbauten über die verbauten Materialien Bescheid wissen wird. Wir hin­gegen wussten das bei diesem Projekt nicht genau.» Und Letzteres birgt Risiken und erfordert ein Umdenken bei Bau- und ­Planungsprozessen.

Die Madaster Services Switzerland AG hat ihren Geschäftssitz im Kreis 5. Madaster wurde von Thomas Rau und Sabine Oberhuber in den Niederlanden «erfunden» und ist als globale Plattform gedacht. Die Gesellschaft in der Schweiz war 2020 die erste weltweit, die operativ wurde. Der Umbau an der Müllerstrasse ist eines der ersten Projekte, das in dieser Form dokumentiert wird. Bei einem späteren Umbau käme dann ein weiteres Prinzip des zirkulären Bauens zum Tragen: «Zirkulär bauen heisst vor allem: schrauben statt kleben», sagt Katharina Schwiete. Das erleichtere sowohl den Ersatz von defekten Teilen wie auch das Zerlegen bei Umbauten erheblich.

Schrauben statt kleben

Das dritte Thema kann man schlicht mit «Innovation» überschreiben. Und Innovation ist bei diesem Umbau Programm: Im Rahmen eines von SPS initiierten «Ac­celerator»-Work­shops entdeckte das Team die «Eyrise»-Verglasung. Dieses von einem niederländischen Start-up entwickelte Sonnenschutzglas gehe automatisch mit dem jeweiligen Sonnenstand und der Einstrahlungsintensität mit, erläutert Schwiete, aber man könne es auch übersteuern. Und sie ergänzt: «Wir gehen ein wohlüberlegtes Wagnis ein, denn bislang wurde Eyrise nur bei kleinen Projekten verbaut, dies ist das erste Projekt dieser Grössenordnung im Bürobau.»

Am Schluss, in einem der auch in Zukunft als Parking genutzten Untergeschosse – in diesem Umfeld ein «Asset», wie Schwiete sagt – sind dann die aus rezykliertem Beton hergestellten Dämmplatten zu sehen. Was ich zuerst als Verzierung wahrnehme, ist ein Anker, der die Platten hält – schrauben statt kleben eben. An diesem Punkt ist die Frage aller Fragen schon beantwortet. Sind die Kosten nicht höher? Tomics Antwort ist: «Die Baukosten sind leicht höher, aber über den gesamten Lebenszyklus des Gebäudes gerechnet ist diese Art des Bauens deutlich kosteneffizienter.»

Die Schlüsselübergabe an den zukünftigen Mieter Google ist auf den 1. November festgelegt – es gibt also kein Zurück mehr. Es laufe alles nach Plan, sagt Schwiete. «Wir haben hier eine Spassbaustelle.» Auch wenn man bei dieser Aussage einen gewissen PR-Faktor einrechnet, sieht vieles nach einem echten Erfolg aus. Und wir alle hoffen doch wohl, dass ein Erfolg dazu beitragen wird, die Nachhaltigkeit stärker in der Bauwirtschaft zu verankern.

Weiterführende Informationen:  www.sps.swiss  www.madaster.ch

  • Zustand der Baustelle Anfang Februar 2023. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Die Fassadenelemente mit dem Spezialglas warten darauf, montiert zu werden. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Eine Dämmplatte aus rezykliertem Beton, hier noch in der zu weichen Ausführung. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Die Baustelle am 22. Februar 2023, von der Glasmalergasse aus gesehen. Bild: Tobias Hoffmann
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Sind Ersatzneubauten mit Netto-Null vereinbar?

Das nachhaltige Bauen ist in letzter Zeit auch in der Politik immer wichtiger geworden. Ob mit Abreissen das Netto-Null-Ziel der Stadt Zürich erreichbar ist, führt zu Disputen. Für die Stadt sind noch andere Faktoren wichtig. 

Beim Verdichten zeigen sich viele Eigentümer in der Stadt Zürich nicht zimperlich. Es werden ganze Siedlungen, selbst wenn sie erst in den 1960er-, 1970er- oder 1980er-Jahren gebaut wurden, zerstört. Der Mieterinnen- und Mieterverband Zürich (MVZH) hat das Thema Abreissen / Sanieren auf die politische Agenda gesetzt. Vor allem die Linkspartei Alternative Liste (AL) hat sich im Gemeinderat vehement gegen den «Abrisswahn» starkgemacht. «Um diesen zu bremsen, braucht es Gesetzesänderungen», so AL-Gemeinderat Walter Angst, der beim MVZH Kommunikationsleiter ist. «Denn unter den gegebenen Bedingungen ist es nur selten möglich, den Abriss eines Hauses zu stoppen.»

Energiebilanz erstellen

Hauptthema ist die graue Energie. Angst definiert graue Energie wie folgt: «Zur Energiebilanz eines Bauwerks gehört neben dem CO2-Ausstoss des Betriebs wie Heizung und Strom auch der über die ­Lebensdauer ‹abzuschreibende› CO2-Ausstoss, der bei der Erstellung anfällt. Je früher ein Haus abgerissen wird, umso grösser ist die ‹verlorene› graue Energie.» Fatal für die Klimabilanz sei, dass der ganze CO2-Ausstoss des Neubaus sofort anfalle.  Jeder Abbruch vernichte viel graue Energie, zusätzlich verursache der für die Neubauten benötigte Beton eine Unmenge an CO₂. «So wie in der Stadt Zürich Ersatz­neubauten erstellt werden, ist Netto-Null nicht erreichbar», betont Angst. 

Der Zürcher Gemeinderat forderte kürzlich, die Stadt solle künftig vor jeder eigenen Verdichtungsplanung die Energiebilanz einer energieeffizienten Sanierung mit jener einer Abriss-Neubau-Lösung vergleichen. Zudem stimmte der Rat einer Motion zu, die ein Pilotprojekt für «zirkuläres Bauen» verlangt. Nicht mehr gebrauchte Materialien und Hausteile sollten wiederverwendet werden. Stadtrat André Odermatt verwies darauf, dass die Stadt die Innovation von Baumaterialien vorantreibe und schon oft mit Recyclingbeton arbeite. Auf Private habe man jedoch keinen Einfluss.

Angst findet es tragisch, dass die Stadt selber eine grosse Abrisssünderin sei. Der Streit um die Personalhäuser des Triemli sei exemplarisch. Das Hochbaudepartement sieht dies anders: «Pro Jahr werden von den rund 50 000 Gebäuden in der Stadt Zürich nur etwa 2 Prozent ersetzt.» Ihren eigenen Gebäudebestand von rund 5000 Gebäuden nutze sie so lange wie möglich und sinnvoll. Sie plane Gebäude mit einem langen Lebenszyklus. 

Das ganze Portfolio im Blick

2021 standen gemäss Hochbaudepartement bei den laufenden Projekten von Liegenschaften Stadt Zürich im Teilportfolio Wohnen und Gewerbe 62 Instand­setzungen nur 3 Ersatzneubauten und 4 Neubauten/Erweiterungen gegenüber. Auch im Portfolio von Immobilien Stadt Zürich (insgesamt rund 1800  Objekte) seien von den im Jahr 2021 laufenden Bau­projekten 36 Instandsetzungen und nur 12 Neubauten/Erweiterungen und 9 Ersatzneubauten gewesen. «Die Frage nach einem nachhaltigen Umgang mit Gebäuden ist sehr komplex, und es braucht eine differenzierte und sorgfältige Betrachtung sowohl des gesamten Portfolios als auch des konkreten Einzelfalls», betont das Hochbaudepartement.

Diese Portfoliobetrachtung ermöglicht einen grösseren Handlungsspielraum, der gerade für die Entwicklung von nachhaltigen Projekten zentral ist.» Es gehe darum, im Sinne der umfassenden Nachhaltigkeit verschiedene Aspekte miteinander in Einklang zu bringen: ökologische, soziale und wirtschaftliche (das Drittelsziel bei den preisgünstigen Wohnungen, das Bereitstellen von genügend Schulraum und sonstiger Infrastruktur, die Barrierefreiheit usw.). Ein weiterer wichtiger Aspekt, der nicht ausser Acht gelassen werden dürfe, sei die übergeordnete Raumplanung. Das erwartete Bevölkerungswachstum müsse in den Städten und den urbanen Räumen stattfinden – gerade auch aus Gründen der Nachhaltigkeit. Dort seien schon Infrastrukturen vorhanden, die das Wachstum aufnehmen könnten. 

Arealbonus abschaffen

Gemäss Walter Angst haben Ersatzneubauten weitere negative Auswirkungen. «Die Grossgrundbesitzer profitieren dank einem Bonus der Stadt ab einer ­Arealgrösse von 6000 Quadratmetern enorm von den ­hohen Ausnutzungs­reserven. Dieser ­Arealbonus, der nur an ästhetische An­forderungen geknüpft ist, muss so rasch wie möglich abgeschafft werden.» Zudem könnten Private in Neubauten hohe ­Mietzinse verlangen. Die Stadt hält demgegenüber fest: «Gerade bei stadteigenen Wohnsiedlungen oder bei Genossenschaften entsteht mit Ersatzneubauten in der Regel zusätzlicher preisgünstiger Wohnraum für mehr Menschen.»  

Pia Meier

Tobias Hoffmann