Tobias Hoffmann
Irgendwann im Verlauf der dreiviertelstündigen Baustellenbegehung wird Mladen Tomic sagen: «Wir hätten für den Abbruch des Gebäudes ziemlich viel Geld ausgeben müssen.» Tomic ist Mediensprecher von Swiss Prime Site (SPS), der grössten börsenkotierten Immobiliengesellschaft der Schweiz, die auch das grosse Bürogebäude an der Müllerstrasse 16/20 im Kreis 4 in ihrem rund 13 Milliarden Franken schweren Portfolio hat. Er führt mich, zusammen mit Katharina Schwiete, Leiterin des Asset-Management Bau der SPS, und einem Bauleiter durch den siebengeschossigen Komplex an bester Innenstadtlage nahe beim Stauffacher. An diesem 22. Februar wird bereits intensiv an der Fassade gearbeitet. Drei Wochen zuvor sah man hier fast nur das Skelett des Gebäudes mit Baujahr 1980, das zuletzt von der Swisscom genützt wurde.
Statt das Gebäude auf die Tragstruktur zurückzubauen, wäre es in einem anderen Fall vielleicht vollständig abgerissen worden, doch SPS entschied sich dafür, es nach dem Prinzip des «zirkulären» Bauens, also im Sinne der Kreislaufwirtschaft, zu erneuern – wobei «erneuern» nicht ganz das richtige Wort ist. In diesem Gebäude kehrt viel Altes in neuer Form wieder.
Die Führung durch das Gebäude, die im Technikgeschoss zuoberst beginnt und in einem der drei Untergeschosse endet, gibt Aufschluss über den Pioniercharakter des Projekts, die angewendeten Verfahren und die finanziellen Chancen und Risiken der Kreislaufwirtschaft. Da die Informationen sich spontan aus dem lockeren Austausch ergeben, werden sie in der Folge nicht dem Ablauf der Besichtigung folgend geschildert, sondern nach Themen geordnet.
Aus Fenstern werden Lampen
Nehmen wir als erstes Thema das Recycling: Vom gesamten Betonvolumen des Gebäudes wurden nur 7 Prozent abgebrochen, und diese werden vollständig wiederverwertet, einerseits fein vermahlen in Wärmedämmplatten, andererseits in den Platten für einen Terrazzoboden. Der überwiegende Teil des Aluminiums der früheren Fassade wird gereinigt, zugeschnitten und wieder für die Fassade, aber auch für die Verkleidung der zweiten Eingangslobby verwendet. Aus dem Abbruchglas und den alten Fenstern schliesslich, und das ist ein besonders ungewöhnlicher Prozess, entstehen Lampen in den Bereichen vor den Liften, die zum Grundausbau gehören. Diese Idee, erzählt Katharina Schwiete, sei im Austausch zwischen dem Architekturbüro (Ilmer Thies Architekten AG) und dem Totalunternehmer (Allco AG) entstanden.
Zweites Thema: die Dokumentation der Baumaterialien. Dafür gibt es in der Schweiz seit ein paar Jahren ein Zauberwort: Madaster, aus dem Zusammenzug der Worte Material und Kataster entstanden. Dabei handelt es ich um eine Cloud-Plattform, «wo erfasst ist, wo welches Material mit welchem Zirkularitätspotenzial verbaut wurde», wie Schwiete erklärt. Mladen Tomic führt weiter aus: «In zehn Jahren wird auf Madaster schon viel erfasst sein, sodass man bei späteren Neu- oder Umbauten über die verbauten Materialien Bescheid wissen wird. Wir hingegen wussten das bei diesem Projekt nicht genau.» Und Letzteres birgt Risiken und erfordert ein Umdenken bei Bau- und Planungsprozessen.
Die Madaster Services Switzerland AG hat ihren Geschäftssitz im Kreis 5. Madaster wurde von Thomas Rau und Sabine Oberhuber in den Niederlanden «erfunden» und ist als globale Plattform gedacht. Die Gesellschaft in der Schweiz war 2020 die erste weltweit, die operativ wurde. Der Umbau an der Müllerstrasse ist eines der ersten Projekte, das in dieser Form dokumentiert wird. Bei einem späteren Umbau käme dann ein weiteres Prinzip des zirkulären Bauens zum Tragen: «Zirkulär bauen heisst vor allem: schrauben statt kleben», sagt Katharina Schwiete. Das erleichtere sowohl den Ersatz von defekten Teilen wie auch das Zerlegen bei Umbauten erheblich.
Schrauben statt kleben
Das dritte Thema kann man schlicht mit «Innovation» überschreiben. Und Innovation ist bei diesem Umbau Programm: Im Rahmen eines von SPS initiierten «Accelerator»-Workshops entdeckte das Team die «Eyrise»-Verglasung. Dieses von einem niederländischen Start-up entwickelte Sonnenschutzglas gehe automatisch mit dem jeweiligen Sonnenstand und der Einstrahlungsintensität mit, erläutert Schwiete, aber man könne es auch übersteuern. Und sie ergänzt: «Wir gehen ein wohlüberlegtes Wagnis ein, denn bislang wurde Eyrise nur bei kleinen Projekten verbaut, dies ist das erste Projekt dieser Grössenordnung im Bürobau.»
Am Schluss, in einem der auch in Zukunft als Parking genutzten Untergeschosse – in diesem Umfeld ein «Asset», wie Schwiete sagt – sind dann die aus rezykliertem Beton hergestellten Dämmplatten zu sehen. Was ich zuerst als Verzierung wahrnehme, ist ein Anker, der die Platten hält – schrauben statt kleben eben. An diesem Punkt ist die Frage aller Fragen schon beantwortet. Sind die Kosten nicht höher? Tomics Antwort ist: «Die Baukosten sind leicht höher, aber über den gesamten Lebenszyklus des Gebäudes gerechnet ist diese Art des Bauens deutlich kosteneffizienter.»
Die Schlüsselübergabe an den zukünftigen Mieter Google ist auf den 1. November festgelegt – es gibt also kein Zurück mehr. Es laufe alles nach Plan, sagt Schwiete. «Wir haben hier eine Spassbaustelle.» Auch wenn man bei dieser Aussage einen gewissen PR-Faktor einrechnet, sieht vieles nach einem echten Erfolg aus. Und wir alle hoffen doch wohl, dass ein Erfolg dazu beitragen wird, die Nachhaltigkeit stärker in der Bauwirtschaft zu verankern.