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Kultur
06.04.2024
05.04.2024 13:43 Uhr

Unstillbare Sehnsucht nach dem anderen

Alberto Venzago in der Galerie Moos Fine Art, inmitten von ikonischen Porträts von Mick Jagger und Andy Warhol.
Alberto Venzago in der Galerie Moos Fine Art, inmitten von ikonischen Porträts von Mick Jagger und Andy Warhol. Bild: Vanessa Moos
Mit 26 begann der Zürcher Alberto Venzago, rund um den Globus zu fotografieren, von der Südsee bis in die Antarktis, von Japan bis Westafrika. Heute zählt er zu den bedeutendsten Fotoreportern unserer Zeit. Eine Essenz seines Werks ist nun in der Herrliberger Galerie Moos Fine Art zu sehen.

Tobias Hoffmann

Für einen wie ihn kann die Welt eigentlich nicht weit genug sein. Man würde sich nicht wundern, wenn er beim ersten kommerziellen Mondflug als Fotoreporter dabei wäre. Doch Alberto Venzago ist doch schon 74 Jahre alt. Dieser Trip wird ihm also wohl eher verwehrt bleiben. Doch sonst gibt es kaum eine Ecke unserer Erde, die er nicht mit seinen Kameras erkundet hätte. Jahrzehntelang war er ohne festen Wohnsitz und im Auftrag legendärer Magazine wie «Life», «Time», «Stern» oder «Geo», vier Jahre für die berühmte Agentur Magnum, unterwegs. Und es waren keine Postkartenbilder, die bei seinen Redaktionen ankamen, sondern Kriegsbilder aus dem Libanon, Langzeitreportagen zur japanischen Mafia Yakuza, zur Kinderprostitution in Manila, zu den für westliche Augen völlig fremden Voodoo-Kulten im westafrikanischen Benin. Und Unzähliges mehr.

Durch eine Einzelausstellung in Zürich geadelt

Hat dieser fotografische Kosmos Platz auf wenigen Quadratmetern? Ja, hat er. In der im November neu eröffneten Galerie  Moos Fine Art in Herrliberg. Gegründet hat sie die promovierte Kunsthistorikerin Vanessa Moos, die seit 2019 mit ihrer Familie in Herrliberg lebt. Es ist ihre zweite Ausstellung, und sie trägt den Titel «DO YOU DARE? In touch with the world». Der zweite Teil des Titels erschliesst sich von selbst. Und der erste? Man könnte ihn auf die ­Galeristin selbst münzen. Ja, sie hat es gewagt, den grossen Fotografen anzufragen. Und der hat zugesagt. Er, der erst vor wenigen Jahren eine grosse Einzelausstellung im Museum für Gestaltung in Zürich bekommen hatte.

Zum Interview in der Galerie ist Venzago verspätet. Ein grosser Stau hält ihn auf. Sein Atelier befindet sich im Gaswerk in Schlieren. Es ist eine riesige Loft, wie man in einem «Kulturplatz»-Bericht von SRF sehen kann. Vanessa Moos’ Galerie hätte mehrmals darin Platz. Sie befindet sich in einem Altbau neben der Post, der schon viele Nutzungen gesehen hat. Die Atmosphäre der beiden Räume hat Venzago offenbar so zugesagt, dass er sich zu einer Ausstellung bereiterklärt hat. So erzählt es Vanessa Moos, während wir auf ihn warten. Mit der Galerie erfülle sie sich einen Lebenstraum, sagt sie. Und sie wolle damit die Kunst- und Kulturszene ihres Wohnorts etwas beleben. Im Übrigen gebe es an der Goldküste viele Akademiker, kunstaffine Menschen und auch Künstler; es sei ein sehr inspirierendes Umfeld.

Giganten der Rockmusik vor der Linse

Venzago selbst ist in Zürich geboren, in eine musikalische Familie hinein. Sein Bruder ist ein berühmter Dirigent: Mario Venzago. Auch Alberto schien die Musiklaufbahn vorgezeichnet, doch ein Motorradunfall verhinderte das. Nach vier Jahren als Hippie-Globetrotter machte er das Fotografieren zu seinem Beruf. Mit der Welt der Rockmusik fing es an: Knipsend und schreibend folgte er Pink Floyd und Led Zeppelin auf ihren Tourneen. Und Stars aus der Welt der Musik hat er immer wieder vors Objektiv genommen: Dirigenten und Pianisten, Rockmusiker wie Mick Jagger, Tina Turner und Sting, bildende Künstler wie Andy Warhol und Louise Bourgeois, Filmemacher wie Wim Wenders und Roman Polanski.

Diese Venzago-Welt der Stars lernt man am einfachsten mit der Ausgabe Nr. 907 der Kulturzeitschrift «Du» kennen, und sie soll hier nicht weiter zur Sprache kommen. Immerhin sei gesagt, dass ein paar ikonische Porträts in der Galerie zu bewundern sind, zwei von Mick Jagger etwa (siehe Bild rechts oben) und eines von Tina Turner, die Venzago in einem Moment tiefster Entspannung abgebildet hat. Er konnte sie zu Hause beim Singen buddhistischer Mantras fotografieren, wie er im «Du» erzählt. Und er fügt an: «Dabei ist ­eines meiner schönsten Bilder entstanden.»

Jenseits der Tischkante hinunter

Und dann steht er leibhaftig da, dem Stau entronnen. Ein gut gealterter Hippie, könnte man sagen. Und in wenigen Sekunden zeigt sich, was eines seiner Erfolgsrezepte sein dürfte: Er gibt sich nahbar, unkompliziert und hilfsbereit. Wenn man ihn fragt, wie es ihm gelungen sei, so nah an die japanischen Mafiosi heranzukommen, erklärt er: «Man muss empathisch sein, man muss auch diese Typen als Menschen betrachten, die genau dieselben ‹struggles› haben wie wir anderen auch.»

Was aber treibt ihn zu Kriegsschauplätzen, zu Gemeinschaften unzugänglicher fremder Kulturen? «Ich glaube, es ist meine Neugier. Ich finde das Leben jenseits der Tischkante spannender als das auf dem Tisch. Weil man dort hinuntersieht. Es ist also ein rein egoistischer Grund: Das Leben ist kurz, und ich will es auskosten. Als Geschichtenerzähler mit der Kamera habe ich ein gutes Medium gefunden, um das auszuleben.»

Ausstellung «DO YOU DARE? In touch with the world»

MOOS fine art. Forchstrasse 20, Herrliberg.

Öffnungszeiten: Donnerstag bis Samstag, 14 bis 18 Uhr oder nach Vereinbarung.

mail@moosfineart.com, Mobile 076 701 21 25.

Bis 16. Mai.

www.moosfineart.com

In der Galerie hängen zwei Bilder aus Polynesien, das eine 35 Jahre alt, das andere ziemlich frisch. Polynesien ist nun wirklich ganz am anderen Ende der Welt. Venzagos Interesse daran hat mit dem berühmten französischen Maler Paul Gauguin zu tun, der dort seine bekanntesten Bilder malte. «Die Polynesien-Geschichte ist mir durch die Pandemie zugefallen», erzählt Venzago. «Ich habe in dieser Zeit angefangen, mein Archiv zu digitalisieren. So bin ich auf die alten analogen Polynesien-Bilder gestossen und habe gedacht: Die sind ja gar nicht so schlecht. Und habe mich gefragt: Warum habe ich damals nicht weitergemacht?»

Der Künstler als Drucker

Nachdem Venzago die beiden Bilder kommentiert hat (siehe unten), erläutert er noch das Handwerk des Druckens. Die Abzüge seiner Fotografien stellt er selber her. In seinem Atelier steht eine grosse Maschine. Venzago experimentiert mit Papier, mit Farbe, mit Grauwerten. So sind die Bilder in der Ausstellung von A bis Z seine eigenen Kreationen. Er sei in dieser Beziehung ein «Kontrollfreak». Nur schon die Materialkosten eines Bildes, man ahnt es, sind also beträchtlich. Was denn das Bild des tätowierten jungen Mannes koste? Vanessa Moos antwortet: «7500 Franken.» Venzago darauf: «So billig?» Und lacht. Wie so oft an diesem Abend.

Am Tag des Erscheinens dieser Zeitung weilt Alberto Venzago, nach tagelanger Reise mit 70 Kilogramm Ausrüstung, auf Hiva Oa, einer kleinen Insel in Französisch-polynesien, der letzten Station von Paul Gauguins Lebensweg. Sie liegt noch einmal vier Stunden von Papeete, der Hauptstadt Tahitits, entfernt. Im pazifischen Nirgendwo. Nicht nur Venzagos Energie, von nicht versiegender Neugier gespeist, ist beeindruckend, sondern auch, wie treu er gegenüber seinen Stoffen ist. Der rastlos Reisende ist halt doch auch ein Beziehungsmensch.

Polynesisches Porträt: Tane, der tätowierte Mann. Bild: Alberto Venzago
«Das Bild habe ich vor 35 Jahren gemacht. Es ist schwarz-weiss, analog, und ich habe einen Farbfilter darüber gelegt. Es ist inszeniert, der Mann befindet sich genau in der Mitte. Das mache ich sonst nicht so gerne, aber hier hat es seine Wirkung. Der junge Mann war damals ungefähr 24. Er lebte mit einer Frau zusammen. Sie habe ich auch fotografiert, aber ihn fand ich am Ende interessanter. Beide waren tätowiert. Die Tätowierungen sind zwar ornamental, doch sie haben alle eine Bedeutung. Seine Nacktheit ist nicht sexuell und so besonders, weil man ihm den Stolz darüber anmerkt. Den Hintergrund bildet eine Wand aus geflochtenen Pflanzenfasern, wie sie typisch ist für die Hütten der Einheimischen.»
Alberto Venzago
Auf den Spuren der Nachkommen von Paul Gauguins Frauen: Dieses Foto nahm Venzago hundert Meter von Gauguins damaligem Zuhause auf. Bild: Alberto Venzago
«Dieses Bild entstand vor sieben Wochen. Mich interessiert, wie Gauguin seine Modelle gefunden hat. Die Sehnsucht nach dem Paradies trieb ihn nach Polynesien. Es geht mir eigentlich auch ein bisschen so. Ich habe das Privileg, in Zürich aufgewachsen zu sein, hier zu wohnen, aber das reicht mir nicht. Ich habe eine Sehnsucht nach dem anderen. Ich will herausfinden, was das dort draussen für Menschen sind. Auch dieses Bild ist inszeniert. Gauguin wohnte hundert Meter weiter hinten. Er kam jeden Tag an dieser Stelle vorbei. Ich habe versucht, herauszufinden, wie er getaktet war. Ich bin überwältigt von der Landschaft dort und habe ein paar Bilder ohne Menschen gemacht. Dann traf ich diese Frau, die aus dem Gauguin-Umkreis stammt. Ich dachte mir: Gauguin hat die Frauen von vorne gezeigt, ich zeige sie von hinten. So stellt man sich die Frage: Was schaut sie sich an? Ich habe ihr nicht gesagt, wie sie sich genau hinstellen soll. Sie hat auch das Kleid selbst gewählt. Lustig ist, dass sie einen weissen Zehennagel hat. Keine Ahnung, warum.»
Alberto Venzago
Tobias Hoffmann