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Stadt Zürich
12.10.2022
09.12.2022 16:04 Uhr

Für die Anliegen des stimmlosen Drittels

Der neu zusammengesetzte (nicht ganz vollzählige) Ausländerbeirat für die Legislaturperiode 2022 bis 2026 am 17. September.
Der neu zusammengesetzte (nicht ganz vollzählige) Ausländerbeirat für die Legislaturperiode 2022 bis 2026 am 17. September. Bild: Mara Truog
Im Spätsommer ist der 25-köpfige Ausländerbeirat für die Legislaturperiode 2022 bis 2026 neu bestellt worden, am 22. September hat er in seiner ersten Plenarsitzung im Musiksaal des Stadthauses die Arbeit aufgenommen. Wie dieser Beirat funktioniert, erfahren Sie von den beiden Co-Präsidentinnen.

Tobias Hoffmann

Erschrecken Sie nicht, wenn ich gleich mit einer Studie beginne. Sie ist einfach zu verblüffend. Anlässlich der städtischen Migrationskonferenz 2018 stellte Christof Meier, Leiter der Integrationsförderung der Stadt Zürich, Zahlen zur Altersgruppe der 30- bis 39-Jährigen vor, der  grössten 10-Jahres-Altersgruppe in der Stadt. Die Mehrheit von ihnen ist im Ausland geboren, sie sind mehrheitlich im Erwachsenenalter nach Zürich gezogen, und fast die Hälfte von ihnen hat keinen Schweizer Pass und ist damit vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen.

Heute betont Christof Meier, den wir zum Gespräch im 4. Stock des Stadthauses treffen, diese «Nichtvertretung» eines besonders dynamischen Teils der Bevölkerung stelle «ein demokratiepolitisches Problem» dar. Die Stadt habe deshalb ihre diesbezüglichen Aktivitäten in den letzten Jahren intensiviert. Hier soll es aber nicht um die Arbeit der Behörden gehen, sondern um jene einer beratenden Kommission, die seit 2005 besteht (siehe Kasten ganz rechts): Der sogenannte Ausländerinnen- und Ausländerbeirat (im Folgenden nur noch: Beirat) bringt Themen in die politische Diskussion, die der Alltagserfahrung der Migranten entspringen, aber oft unterzugehen drohen. Wir haben die Co-Präsidentinnen des 25-köpfigen Beirats über ihre Arbeit befragt.

Frau Ledesma, Frau Charaf, war die Bedingung für Ihre Wahl ins Co-Präsidium, dass Sie bereits vorher im Beirat gearbeitet haben?

Chantico Ledesma: Im Reglement steht das nicht, es ist aber der Idealfall. Ich habe jetzt meine dritte Legislatur angefangen und bin immer wieder überrascht, wie viel ich wissen muss, bevor ich mir eine Meinung bilden kann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand von aussen gleich im Co-Präsidium startet.

Marianne Charaf: Ich bin in der letzten Legislaturperiode dazugekommen und wirkte dann auch im Vorstand mit, sehr aktiv beim Thema «Schule und Elternhaus». Für uns geht es nicht darum, die Welt zu revolutionieren. Wir möchten über Themen sprechen, welche die Migrantenbevölkerung vermehrt betreffen und sonst untergehen. Dennoch sind wir  keine einheitliche Grösse: Da gibt es die Hochgebildeten und die Hochdeutsch Sprechenden, die – vermeintlich – keine grösseren Schwierigkeiten haben; und dann sind da jene, die aus Kriegsgebieten kommen oder die nicht dieselbe Schriftsprache wie wir haben oder die bildungsferner sind … Die Anliegen, für die wir sensibilisieren möchten, sind also sehr unterschiedlich.

Frau Ledesma, Sie sind nun acht Jahre dabei. Wenn Sie auf Ihre Tätigkeit zurückblicken, haben Sie dann das Gefühl, dass sie positive Wirkung hatte? Können Sie sich an konkrete Fortschritte erinnern?

Ledesma: Es gibt eine sehr positive Wirkung! Ich bin sehr zufrieden, deshalb mache ich weiter. Ein konkretes Beispiel war unser Einfluss auf die Umsetzung des «Runden Tisches gegen Rassismus» sowie die kontinuierliche Arbeit mit der Fachstelle Brückenbauer. Für mich entscheidend ist aber, dass es eine Behörde gibt, die unseren Einsatz für ein interkulturelles Zürich schätzt, für ein Miteinander der Menschen mit und ohne Stimmrecht, für Chancengerechtigkeit und Arbeits- und Wohnmöglichkeiten für alle. Das motiviert mich sehr. Aber auch das Feuer der Menschen, die sich im Beirat engagieren. Dass Menschen mit so unterschiedlichem Hintergrund zusammenkommen, ist schon selber genug Wirkung.

  • Chantico Ledesma ist in Mexiko geboren. Sie hat Philosophie studiert und kam 2009 nach Zürich. Sie hat den Verein ExpoTranskultur mitgegründet und engagiert sich im Quartierverein Affoltern. Bild: Lorenz Steinmann
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  • Marianne Charaf ist in Bolivien geboren, hat lange in Deutschland gelebt und besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie kam 2014 nach Zürich und arbeitet hier als Business & IT Principal Consultant. Bild: Lorenz Steinmann
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Frau Charaf, was haben Sie bei Ihrem Hauptthema «Schule» in den vier Jahren für eine Entwicklung feststellen können?

Charaf: Wir haben eine sehr enge Zusammenarbeit mit dem Schul- und Sport­departement. Wir haben Konzepte entwickelt, die als Teilbetrag für Pilotprojekte dienten, die nun gestartet werden, zum Beispiel die Schulbotschafter. Ausserdem tauschen wir uns zum Beispiel mit den ­Elternvertretungen über das Thema «Bildungssprache (Hochdeutsch) und Alltagssprache (Schweizerdeutsch)» aus. Kinder, die analytisch stark sind, können an einer Mathematikaufgabe scheitern, wenn sie das elaborierte Hochdeutsch der Aufgabe nicht verstehen. Dieses Thema betrifft Kinder mit Migrationshintergrund eben­so wie Schweizer Kinder, die Schweizerdeutsch, Französisch oder Italienisch als Muttersprache haben. Das Schweizer Bildungssystem beruht auf der Vorstellung, dass man auch auf nicht akademischem Weg eine sehr gute Ausbildung machen kann. Dennoch sehen wir, dass Kinder aus akademischen Familien bessere Chancen haben, erfolgreich zu sein. Wir stellen uns die Frage, wie es möglich wird, dass zum Beispiel Kinder mit analytischem Potenzial, aber mit Problemen beim Hochdeutsch, die Chance haben – plakativ gesagt –, Mathematikprofessor zu werden. Wir sprechen von Potenzialen, die möglicherweise hinter der Hürde ­einer Sprache versteckt sind, die nicht die Alltagssprache der Schweiz ist.

Wenn man sich die Zusammensetzung des Beirats ansieht, stellt man fest, dass die gut ausgebildeten Mitglieder deutlich überwiegen. Und es gibt Nationalitäten, die in Zürich sehr präsent, aber im Beirat nicht repräsentiert sind. Der Sanitär­installateur aus dem Kosovo, wie bekommt der eine Stimme?

Ledesma: Im Beirat sitzen jene, die an diesem Engagement interessiert sind und die auch genügend Zeit haben. Natürlich müssen alle Regionen angemessen vertreten sein. Es gibt wichtige Kriterien für die Auswahl, wie Geschlecht, Alter und so weiter. Dies erfordert lange und ernsthafte Diskussionen. Und es ist wichtig, zu wissen, dass ich zum Beispiel nicht nur die mexikanische Bevölkerung vertrete, sondern alle Zürcher ohne Pass.

Charaf: Bei der diesjährigen Wahl gab es 67 Bewerber für ungefähr 14, 15 neu zu ­besetzende Positionen. Das heisst, ein Viertel muss perfekt passen in Bezug auf die optimale Verteilung von Nationalität, Alter, religiöse Überzeugung, Gender, Sprache und Ausbildung; auch die Fähigkeit, Themen ­offen und klar zu kommunizieren, ist wichtig. Es darf keine Partikularinteressen geben. Wir wollen nicht, dass eine politische Partei aus einem bestimmten Land hier ein Podest hat. Einen guten Mix hinzubekommen, ist sehr schwierig.

Übernimmt der Beirat auch konkrete ­Aufgaben?

Charaf: Die städtischen Stellen sind offen für alle, und die Migranten sollten diese Möglichkeit wahrnehmen – ohne unsere vermittelnde Kommunikation. Bei den 30- bis 39-Jährigen ohne Schweizer Pass, die in Zürich die Hälfte der Altersgruppe darstellen, werden erfahrungsgemäss viele bleiben. Und viele werden Familien gründen. Grund genug, sich mit dieser ­Situation auseinanderzusetzen. Wir beraten und begleiten die Stadt bei diesen Themen, ersetzen aber nicht die Kommunikation, die sich zwischen ihr und den Migranten herausbilden muss. 

Ledesma: Wir haben hier in der Schweiz diese wunderschöne Einrichtung der ­direkten Demokratie. Alle sollen daran teilhaben können. Natürlich gibt es Möglichkeiten, sich ausserhalb des Stimm- und Wahlrechts an politischen Prozessen zu beteiligen. Auf jeden Fall ist es klar: Wer teilnehmen kann, engagiert sich mehr für ein gutes Zusammenleben.

Ausländerbeirat und Integrationsförderung

Im Kanton Zürich sind die Gemeinden nicht ermächtigt, der ausländischen Bevölkerung das kommunale Stimm- und Wahlrecht zu erteilten. Deshalb können in der Stadt Zürich wohnende Ausländerinnen und Ausländer viele Entscheidungen, von denen sie direkt oder indirekt betroffen sind, nur bedingt aktiv mitgestalten und beeinflussen. Auf Anregung der italienischen Organisationen in der Schweiz wurden im Jahre 2003 durch das Präsidialdepartement verschiedene Varianten geprüft, der ausländischen Bevölkerung mehr Mitsprache zu verschaffen. Nach einer Vernehmlassung bei über 250 Ausländerorganisationen sowie bei internen und externen Fachleuten entschied sich der Stadtrat im Mai 2004 für die versuchsweise Einrichtung eines Ausländerbeirats (ABR).

Der ABR wurde als beratende Kommission des Stadtrats eingerichtet. Seine Mitglieder müssen in der Stadt Zürich Wohnsitz haben und dürfen – dies als Besonderheit – kein Schweizer Bürgerrecht besitzen.

Der ABR erarbeitete in der Pilotphase 2005–2007 ein Geschäftsreglement und traf sich pro Jahr zu mindestens vier ordentlichen Sitzungen sowie zu zahlreichen Treffen in Arbeits- und Projektgruppen. In dieser Zeit empfahl der ABR der Stadt Zürich unter anderem den Beitritt zur Europäischen Städtekoalition gegen Rassismus oder die verstärkte Sprachförderung im Vorschulbereich.

Um dem ABR Zeit zu geben, sein Profil weiterzuentwickeln, verlängerte der Stadtrat die Pilotphase bis Ende 2010. Er empfahl dem ABR, sich stärker zu fokussieren und sich vermehrt als «Sprachrohr» der ausländischen Bevölkerung zu verstehen.

2010 wurde der ABR definitiv eingeführt, mit einigen Neuerungen: 1. Von nun an fand ein jährliches Arbeitstreffen zwischen dem ABR und dem Stadtrat (sowie Vertretungen der Stadtverwaltung) statt. 2. Der ABR wurde verpflichtet, die in der Stadt Zürich aktiven Migrantenorganisationen mindestens einmal pro Jahr zu einem Austausch einzuladen. 3. Der ABR erhielt eine kleine Geschäftsstelle (20 Stellenprozente), die vom Bereich Inte­grationsförderung des Präsidial­departements geführt wird. Und schliesslich wurden nun 4. für die ehrenamtlich arbeitenden Mitglieder des ABR analog zu anderen städtischen Kommissionen Sitzungsgelder ausgerichtet.

Quelle: «Ausländerbeirat der Stadt ­Zürich». Bericht des Stadtrats an den ­Gemeinderat über die Pilotphase 2005–2010 und die Weiterführung 2011–2014, Oktober 2010.

Tobias Hoffmann
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